Kanzleien, auch solche aus den Top-100 der deutschen Wirtschaftskanzleien, gelten nicht als sonderlich innovativ. Rechtsabteilungen auch nicht. Die jeweilige Selbstwahrnehmung mag anders sein. Natürlich ist es nicht mehr so uninnovativ wie vor, sagen wir, 10 Jahren, als das Bucerius CLP anfing, über Innovation im Rechtsmarkt zu forschen. Inzwischen gibt es spektakuläre Einzelfälle, die aus der Masse herausragen. Insgesamt aber ist das Tempo fast behäbig, verglichen mit anderen Branchen. Aber das Entwicklungstempo in Kanzleien hängt immer vom jeweiligen Druck aus den Märkten ab, auf denen Kanzleien tätig sind: dem Bewerber*innenmarkt einerseits (um den es heute nicht geht) und dem Mandant*innen markt andererseits. Schaut man genauer hin, stellt man fest: Der Druck seitens der Mandant*innen kann nicht besonders hoch sein.
Diese Einleitung weckt Protest und Widerspruch, zuerst von den Rechtsabteilungen: Gibt es nicht erheblichen Druck in Unternehmen, gerade Kostendruck, und steht die Rechtsabteilung nicht im Feuer und muss permanent ihre Prozesse und Abläufe neu gestalten? Haben sich nicht die Beziehungen zu den externen Berater*innen maßgeblich geändert, inkl. beinharter Preisverhandlungen? Gilt nicht überall Susskinds These des „More for less“? An dieser Stelle würden die Kanzleien in den Chor einstimmen, sich über den Druck auf die Honorare beklagen, ihrerseits auf den hohen Kostendruck nicht nur im Personalbereich verweisen, sondern auch auf die gestiegene Konkurrenz gerade durch nichtanwaltliche „Alternative Legal Service Provider“, die völlig unreguliert und mit besonders tiefen Taschen unterwegs sind und Dienstleistungen anbieten, von denen nicht immer so glasklar zu erkennen ist, ob nicht doch die Grenze zur unerlaubten Rechtsdienstleistung überschritten ist. Aber unabhängig davon: Beide Seiten, Mandant*innen wie Kanzleien, würden behaupten, dass sie nur durch ständige Innovation in der Lage sind, dem Änderungsdruck standzuhalten.
Viele dieser Einwände sind richtig. Man kann darüber auch lange diskutieren. Nicht diskutieren kann man über Zahlen, und die ergeben im Markt der Wirtschaftskanzleien: Alle Kanzleien sind in den letzten Jahren personalmäßig gewachsen (wenige Ausnahmen bestätigen die Regel). Die kleinste Kanzlei in den Top 10 hat 303 Berufsträger, die Nr. 30 hat 147 und die Nr. 50 hat immerhin noch 93 Berufsträger – alle mehr als in den Vorjahren. Das ist nur ein Teil der Wahrheit, denn die Arbeitsproduktivität der Kanzleien, ausgedrückt in der Kenngröße Umsatz pro Berufsträger („UBT“) ist ebenfalls gewachsen. Wenn man einmal die pro Kopf umsatzstärksten 10 Kanzleien als Sonderfälle unberücksichtigt lässt (alles transaktionsfokussierte US-Kanzleien) steht an der „deutschen Spitze“ ein UBT von gut 900.000 Euro, auf Platz 40 werden immerhin noch über 500.000 Euro UBT erzielt. Wenn also der Markt der Wirtschaftskanzleien sowohl personal- wie produktivitätsmäßig wächst, dann sagt das etwas über den Bedarf und das Einkaufsverhalten von Mandanten aus.
Letzteres, den gestiegenen Bedarf, gibt es unstreitig: Denn nach internationalen Studien scheint es so zu sein, dass auch Rechtsabteilungen wachsen. Das passt ins Bild, denn eine der Strategien gegen ein zu hohes Budget ist es, mehr Angelegenheiten inhouse zu erledigen, und außerdem gab es in den letzten 20 Jahren vermutlich keinmal das Gefühl, nun werde das Leben leichter, weniger reguliert, weniger komplex. Das Gegenteil ist der Fall.
Neben dem gestiegenen Bedarf scheint sich aber das Einkaufsverhalten nicht nachhaltig geändert zu haben. Anders ist nicht zu erklären, dass in den Wirtschaftskanzleien sowohl Personalzahlen als auch UBT steigen. Ist die Nachfrage wirklich deutlich stärker als das Angebot? Oder konzentriert sich die Nachfrage auf den seit Jahren im Wesentlichen unveränderten Kreis der Anbieter? Haben kleinere Spezialisten/Boutiquen und Alternative Legal Service Providers den Kreis noch nicht so nennenswert erweitert, dass es schon Folgen zeigen würde? Es würde sich lohnen, dieses Thema noch einmal genauer in den Blick zu nehmen.
Was bedeutet Innovation in diesem Zusammenhang? Die aktuellen Forschungsarbeiten im Bucerius CLP zeigen, dass man kaum von Kanzleien fordern kann, innovativer zu werden, nur um der Innovation willen. Tatsächlich zeigen viele Beispiele, wie innovativ, auch grundstürzend innovativ, Kanzleien werden können, wenn sie es müssen – man muss sich nur die Organisation der Dieselprozesse auf der Angreifer- und der Verteidigerseite ansehen. Innovation im Rechtsmarkt beginnt immer bei der Frage, wie die Funktion Recht und Risikomanagement effektiv und effizient organisiert wird. In erster Linie ist das eine Bedarfs- und Prozessanalyse. Danach bestimmt sich, wer was tut, extern und intern. Diesen Prozess sollte man immer mit seinen „Lieferant*innen“ durchlaufen, also hier Unternehmen und Kanzleien gemeinsam. Gibt es dafür Beispiele? Kaum, denn daran scheint es noch zu hapern.