Vor dem Hintergrund der in aktuellen politischen Tendenzen zu Tage tretenden Fragilität der menschlichen Vernunft, dem Umschlagen von Vernunft in Unvernunft in Gestalt fundamentalistischer, ideologischer und extremistischer Strömungen, sowie in Hinblick auf technische und ökonomische Instrumentalisierungen der Vernunft möchte die gemeinsame Philosophiereihe der ZEIT-Stiftung und des Studium generale der Bucerius Law School in diesem Jahr die Potenziale und Gefährdungen aufgeklärten Denkens beleuchten.
Den Auftakt bildete am 18. Januar 2017 die Veranstaltung mit Prof. Dr. Dr. h.c. Susan Neiman, Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Die Vernunft ist Hauptthema ihrer zahlreichen Publikationen (u.a. Warum erwachsen werden?, 2015). Das Gespräch wurde moderiert von Prof. Dr. Dr. Kai-Michael Hingst und Dr. Sven Murmann. Beide sind unter anderem als Philosophie-Dozenten im Studium generale der Bucerius Law School tätig.
Zunächst legte Prof. Neiman ihre Konzeption von Vernunft und ihre Auffassung der Kernfragen und Anliegen der Aufklärung dar, bevor auf den öffentlichen Gebrauch von Vernunft, insbesondere dessen aktuelle politische Dimension eingegangen wurde. Die Konzeption Neimans geht nicht von einer Dichotomie zwischen emotio und ratio aus, Vernunft sei nicht misszuverstehen als Disziplinierung von Leidenschaften. Zielführender sei die Differenzierung zwischen Vernunft und Verstand. Letzterer müsse sich den festen Regeln der Logik beugen und unterstünde den Zwängen von Erkenntnissen. Die Vernunft indes sei frei und unabhängig, immer fordernd auf der Suche nach Antworten und Annäherungen an Wertideale: „Der aufgeklärte Held ist nicht der Technokrat, sondern Mozarts Figaro.“
Auf dieser Grundlage wurde sich der Frage zugewandt, ob im Populismus, der sich einfacher Parolen statt komplexer Argumente bedient, die Unvernunft am Werk sei. Prof. Neiman verwies unter Anderem auf den weniger bekannten zweiten Abschnitt des Briefs Kants an Friedrich den Großen. Dieser sei insofern in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen, weil er „Faulheit und Feigheit“ als Motive anprangere, die den selbstständigen Gebrauch der Vernunft unterbinden. Eine gesellschaftlich weit verbreitete Angst vor Peinlichkeit, verhindere, so Neiman, eine offene, pluralistische oder gar polarisierende Meinungsäußerung, was ein Einfallstor für Bevormundung durch Autoritäten darstelle. In kritischem Rekurs auf die bevorstehende Vereidigung Trumps zum amerikanischen Präsidenten entbrannte eine intensive Diskussion. Nicht zuletzt wurde gar das Konzept „Demokratie“ auf den Prüfstand gestellt und die Idee abgewogen, ob nicht anstelle einer großen, fehl- und beeinflussbaren Masse an Menschen, einige wenige Experten politische Entscheidungen treffen sollten.
Aktuelle mediale Phänomene wie Instagram und deren Gallionsfigur Kim Kardashian fanden neben demokratischen Konzeptionierungen von Platon bis Rousseau Erwähnung. Die zahlreichen Thesen und Gedankenimpulse konnten im Anschluss bei einem Umtrunk im Foyer des Auditoriums vertieft und weitergeführt werden. Die zweite Veranstaltung der Philosophiereihe „SAPERE AUDE!“ zum Thema „Vernunft und Glaube“ findet am Mittwoch 1.März 2017 statt.