Forschung: Neues interdisziplinäres Programm gestartet

Übergreifende Projekte und Institute gibt es an der Bucerius Law School einige. Nun wurde im Januar 2017 ein weiterer, großer Meilenstein gelegt mit einem interdisziplinären rechtswissenschaftlichen Forschungsprogramm. Mit Direktor Professor Hans-Bernd Schäfer sprachen wir über anstehende Unternehmungen, erste Untersuchungsergebnisse und Aha-Erlebnisse.

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Herr Schäfer, wie kam das Programm zustande?

Es ist aus einer Arbeitsgruppe zur interdisziplinären Forschung entstanden, die unsere Präsidentin Professor Katharina Boele-Woelki eingesetzt hat. Darin vertreten waren zehn Kolleginnen und Kollegen der Bucerius Law School und des Hamburger Max-Planck-Instituts. Zu dieser Arbeitsgruppe und für den Senat der Hochschule habe ich einen Vermerk geschrieben, wie man die interdisziplinäre Forschung an der Hochschule verstärken kann. In vielen westlichen und asiatischen Universitäten hat sich die rechtswissenschaftliche Forschung viel stärker dahingehend entwickelt, sie mit Fragestellungen, Methoden und Forschungsergebnissen anderer Disziplinen zu verknüpfen.

Wieso ist es wichtig, interdisziplinär zu forschen?

Weil es nicht nur eine Wahrheit gibt. Die Dinge müssen aus verschiedenen Blickwinkeln und in unterschiedlichem Licht betrachtet werden. Dafür muss man auf andere Disziplinen zurückgreifen. Klassische rechtsdogmatische Forschung versucht, durch begriffliche Interpretation und systematische Einordnung von Gesetzestexten, umstrittene Fälle und Urteile zu lösen oder zu bewerten. Die Entwicklung und Perfektionierung dieser Methode hat in der Vergangenheit die deutsche Rechtswissenschaft auf olympische Höhen geführt. Heute wird daran auch viel Kritik geübt. Warum? Was soll und was kann mit Rechtsnormen erreicht werden? Das ist oft die ausdrückliche Frage einer modernen Rechtswissenschaft.

Niklas Luhmann, einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, unterteilte das Recht in Konditionalprogrammierung und Zielprogrammierung. Bei der Konditionalprogrammierung gibt der klassische Gesetzestext an, unter welchen vorliegenden Tatbestandsvoraussetzungen entschieden wird, z.B. über die Zuerkennung eines Schadensersatzanspruchs bei fahrlässiger Beschädigung des Eigentums oder der Verletzung des Körpers. Zielprogrammierung nennt Ziele, die das Recht erreichen soll. Zum Beispiel muss bei einer Ehescheidung überlegt werden, zu welchem Elternteil das Kind kommt. Es muss nach dem Kindeswohls entschieden werden. Was ist das Beste fürs Kind? Dazu müssen begründete und belastbare Hypothesen entwickelt und angewendet werden, die den Zusammenhang zwischen der rechtlichen Entscheidung und dem angestrebten rechtspolitischen Ziel zum Gegenstand haben. Das gilt oft im Vertrags- oder Gesellschaftsrecht nicht weniger als im Familienrecht.

Hat sich die Forschung verändert?

In jedem Fall. In den letzten 30 bis 40 Jahren hat sich die rechtswissenschaftliche Forschung unter Einbezug nachbarschaftlicher Disziplinen weiterentwickelt. Und das, obwohl ein großer Teil der Forschung in der westlichen Welt weiterhin klassisch dogmatisch, also begrifflich und systematisch ausgerichtet ist. Doch wichtige Forschungsergebnisse sind entstanden, weil sich Rechtswissenschaftler der analytischen und empirischen Methoden, zentraler Begriffe und Forschungsergebnisse von Nachbarwissenschaften bedienen, z. B. der Mikroökonomie, Psychologie oder politischen Wissenschaft. Sie entschlüsseln somit besser, wie Rechtsnormen menschliches Entscheiden, Verhalten und rechtspolitische Ziele beeinflussen. In einigen Ländern, insbesondere in den USA und in Israel, hat diese Forschung bereits die klassische Juristensprache und das Denken von Juristen verändert.

Daran möchte sich die Bucerius Law School in Hamburg beteiligen?

Ja, das Programm ist eine Dienstleistungseinrichtung für alle Wissenschaftler hier. Es fördert interdisziplinäre rechtswissenschaftliche Forschung zur Wirkung des Rechts für Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Wir haben finanzielle Mittel, um auswärtige Gäste für Forschungszwecke einzuladen. Sie erhalten eine Gastprofessur und arbeiten mit Wissenschaftlern der Bucerius Law School in den Bereichen Rechtsökonomie, Recht und Gesellschaft, Recht und Psychologie, empirische Rechtsstudien und Rechtstheorie zusammen. Zweiter Programm-Bestandteil wird sein, Workshops zu organisieren. Kollegen der Hochschule können einen Antrag für wissenschaftliche interdisziplinäre Tagungen stellen. Drittens werden auswärtige Wissenschaftler eingeladen, Vorträge und Ringvorlesungen zu halten. Als vierten Punkt fördert das neue Programm Habilitanden, um sich an ausländischen, interdisziplinären rechtswissenschaftlichen Zentren mit Forschungsprojekten vorzustellen. Wir reihen uns nun ein in einen Kreis solcher Programme. Weltweit wird in vielen Dutzend Instituten und Zentren an rechtswissenschaftlichen Fakultäten derartige Forschung durchgeführt.

Wird das Programm an der Bucerius Law School auch Einfluss auf die Ausbildung haben?

Neue Forschung hat immer auch zum Ziel, Lehre zu verändern. Geplant ist aber noch nichts.

Was ist das oberste Ziel des neuen interdisziplinären Programms?

Wir wollen den Output der Forschung unserer Hochschule mit interdisziplinär ausgerichteten Schriften anreichern. Ein Markenzeichen interdisziplinärer rechtswissenschaftlicher Forschung ist ihre internationale Ausrichtung. Forschungspapiere werden oft in englischer Sprache veröffentlicht. Zuvor werden sie auf internationalen Tagungen und Workshops präsentiert. Unser Ziel ist es, interdisziplinäre Forschungsergebnisse in guten Fachzeitschriften unterzubringen, die von einer breiten Fachöffentlichkeit gelesen werden.

Ist in der Hinsicht schon etwas passiert?

Wir sind dabei. Seit März haben wir einen indischen Wissenschaftler, Professor Ram Singh von der Dehli School of Economics, bei uns an der Hochschule. Er kennt sich gut im amerikanischen Recht aus, da er regelmäßig als Gastprofessor an der Brown University tätig ist und als post doc bei dem Nobelpreisträger Oliver Hart, einem Pionier der ökonomischen Vertragstheorie, gearbeitet hat. Professor Singh wird über die "Ökonomische Theorie der Enteignung" sprechen. Hauptsächlich aber wird er mit mir zusammenarbeiten. Wir bereiten ein Papier vor, das wir während seines Besuchs fertigstellen und im Anschluss daran bei einer international angesehenen Fachzeitschrift zur Veröffentlichung einreichen wollen.

Können Sie uns erzählen, womit sich Ihre geplante Veröffentlichung befasst?

Um die Wirkung von Enteignungsrecht. Wir untersuchen, wie die Normen in Deutschland und den USA ausgestaltet sind, und ob deren Wirkungen rechtspolitisch gewünscht sind. Dabei hatte ich mein persönliches Aha-Erlebnis. Ich lag mit meiner Intuition komplett falsch.

Inwiefern?

Enteignung nach deutschem Recht durchzuführen ist viel schwieriger als nach amerikanischem Recht. Das deutsche Recht schützt den Eigentümer stärker gegen staatliche Willkür bei einer Enteignung als das amerikanische. Das hätte ich nicht gedacht. Wir sind zudem zu einem Ergebnis gekommen, dass man so noch nicht gelesen hat.

Können Sie uns dazu etwas sagen, ohne zuviel zu verraten?

Die Entschädigung bei einer Enteignung ist tendenziell kleiner als der volle Schaden. Es ist aber bei einer Enteignung auch rechtspolitisch geboten, nicht den kompletten Schaden zu zahlen, ganz anders als bei einem zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch. Denn dann werden die betroffenen Bürger motiviert, sich gegen staatliche Willkür zur Wehr zu setzen und sich nicht durch großzügige Entschädigung einlullen zu lassen. Ein kleines Beispiel: Wenn ich ein Grundstück habe, das eine halbe Million wert ist, und ich bekomme dafür 550.000 Euro Entschädigung, weil die Stadt enteignen will, dann kümmert es mich nicht, was wirklich damit passiert und ob die Enteignung dem Gemeinwohl entspricht. Wenn ich aber nach den gesetzlichen Vorschriften nur 400.000 Euro für die Enteignung bekomme, ist mir das nicht egal. Ich habe dann einen materiellen Anreiz auf Unterlassung zu klagen, den primären Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen und feststellen zu lassen, ob die Enteignung durch die Stadt rechtswidrig ist. Ich habe einen handfesten Vorteil davon, mein Grundstück zu behalten. Das führt zu einer engmaschigeren Kontrolldichte durch die Betroffenen und zum Beispiel dazu,  weniger "bridges to nowhere" zu ermöglichen, die nicht im Interesse der Gemeinschaft sind, wohl aber im Interesse von Politikern liegen können.

Sind schon Workshops im interdisziplinären Programm geplant?

Ja, ein erster Workshop steht im März 2018 an. Er hat "Zivilrecht und Wirtschaftswissenschaften" zum Thema. Professor Florian Faust von der Bucerius Law School ist dabei federführend.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Meine Wunschvorstellung ist, dass wir weitere Mittel für das interdisziplinäre Programm akquirieren, von Sponsoren und Wissenschaftsorganisationen, damit es ein Leuchtturmprojekt wird. Bisher können wir keine ausländischen Forschungspersönlichkeiten für ein halbes oder ganzes Jahr an die Bucerius Law School zur Zusammenarbeit mit hiesigen Forschern einladen so wie an anderen derartigen Einrichtungen. Das aber wäre mein großer Wunsch.

Text

Interview: Anja Reinbothe-Occhipinti, freie Journalistin

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