Literatur fürs Leben - Viola Roggenkamp im Gespräch

Was macht Identität aus? Wie sprechen Familien Holocaust-Überlebender über die Schrecken der deutschen Vergangenheit? Welche Rolle spielt dabei Literatur?

Lehre & Studium |

Am 9. November 2022 kamen die Schriftstellerin Viola Roggenkamp und die Literaturwissenschaftlerin Dr. Henrike Walter zu einem Gespräch im Studium generale der Bucerius Law School zusammen.

Dieses Datum steht in der deutschen Geschichte für die Republikproklamation 1918 und Mauerfall 1989 auf der einen, und für die Schrecken der Reichspogromnacht 1938 auf der anderen Seite. Vor diesem Hintergrund wurde darüber gesprochen welche Fähigkeiten die Literatur im Speziellen und Kultur im Allgemeinen bieten, mit der Wirkmacht historischer Ereignisse auf die eigene Biographie umzugehen. Sowie darüber nachzudenken, wie das Kennenlernen der Geschichten Anderer dazu beitragen kann, diese ein Stück weit zu einem Teil unserer Selbst zu machen, Differenzen zu überbrücken und Verständnis zu schaffen.

Geboren als Tochter einer jüdischen Mutter, welche den Holocaust nur durch das Untertauchen mit gefälschten Papieren überlebte, macht Viola Roggenkamp deutsch-jüdische Identitäten und Familiengeschichten oft zu Themen ihrer Bücher. So in ihrem international erfolgreichen Debütroman Familienleben, der 2004 erschien.

Das gesellschaftliche Nachwirken der nationalsozialistischen Verbrechen an deutschen Jüdinnen und Juden zum Beispiel durch unrechtmäßige Enteignung ist auch Thema eines noch unveröffentlichten Werks, aus dem Roggenkamp an diesem Abend eine Passage las.

Viola Roggenkamp studierte Psychologie, Philosophie und Musik, sie reiste und lebte mehrere Jahre in Ländern Asiens und in Israel und war über dreißig Jahre Reporterin u.a. für die ZEIT und für EMMA.

Dr. Henrike Walter ist Literaturwissenschaftlerin und bietet im Studium generale der Bucerius Law School als Dozentin regelmäßig Seminare zu Theater, Kreativen Schreiben oder Literatur an.

 

„Ich bin deutsche Jüdin“

Das Leben deutscher Jüdinnen und Juden ist oft von einem gewissen Zwiespalt geprägt. Roggenkamp selbst sagte, sie habe früher Angst gehabt, nach Israel zu reisen. Das hänge mit der Frage zusammen, daß ihre Familie nach dem Krieg in Deutschland geblieben war. Manche jüdische Familien waren nach der Befreiung in Deutschland geblieben. Sie selbst befürchtete Fragen: Warum seid ihr geblieben? Das hielt sie jedoch nicht davon ab, später für eine gewisse Zeit in Israel zu leben.

Viola Roggenkamps Eltern lernten sich 1937 kennen, also zu einer Zeit, in der die menschenverachtenden Vorschriften der Nürnberger Rassegesetze schon galten. Ihr Vater schaffte es, seiner damaligen jüdischen Geliebten und deren Mutter falsche Papiere zu besorgen, so konnten sie in Polen versteckt leben. Wie sie denn mit ihrer Familie über diese Zeit geredet habe, wird sie an dem Abend einmal gefragt. Und ihre Antwort lässt erkennen, wie schwer dies ihren Eltern gefallen sein muss. Vieles, was damals geschehen war, habe sie auch erst sehr spät erfahren.

 

Schreiben als Insel

Viola Roggenkamp äußerte sich sehr differenziert zu ihren Beweggründen als Schriftstellerin zu arbeiten. Sie denke nicht, daß Literatur Trennendes überwinden könne. Erster Impuls zu schreiben, sagt sie, sei die Provokation. Und der Versuch, Einblick in Leben, wie das ihre, zu verschaffen. Das Thema gehe im ersten Moment nur sie etwas an. Was die Leser daraus machten, sei deren Sache. Besonders in Zeiten der Pandemie sei das Schreiben für sie eine Insel gewesen.

Im Anschluss an das Podiumsgespräch hatte das Publikum die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Großes Interesse hatte das Publikum an ihrer Familiengeschichte und deren literarischer Aufarbeitung, sowie das Interesse an ihrer Person. Deutlich wurde einmal mehr Roggenkamps Rolle als Zeitzeugin von Zeitzeugen.

Der Abend klang mit intensiven Gesprächen bei Brezeln und Wein in der Süd-Lounge der Bucerius Law School aus.

Text

ZSP

NEWSLETTER

Der "Newsletter der Bucerius Law School" informiert ca. zweimonatlich über Neuigkeiten aus der Bucerius Law School und Termine.