Pünder in der Türkei – Ohne Rechtsstaatlichkeit gibt es keine Demokratie

Demokratie ist wie ein Zug. Man besteigt ihn, um zu einem Ziel zu gelangen. Und man verlässt ihn, wenn man angekommen ist. Dies soll der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu Beginn seiner politischen Laufbahn gesagt haben.

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Nun meint er offensichtlich, dass die Zeit für einen Ausstieg reif ist. Das musste Professor Dr. Hermann Pünder, Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, Verwaltungswissenschaft und Rechtsvergleichung an der Bucerius Law School, bedrückt feststellen, als er im Februar einmal wieder als Gastprofessor an der Bilgi-Universität in Istanbul lehrte. Der Verfassungsrechtler Bertan Tokuzlu, der im Sommer 2014 einen Forschungsaufenthalt an der Bucerius Law School verbracht hatte, war sein Gastgeber.

Pünder unterrichtete an der Partneruniversität in verschiedenen Lehrveranstaltungen einen ganzen Jahrgang über die Entwicklung des deutschen Verfassungsrechts als Reaktion auf das Scheitern der Weimarer Republik und die Nazi-Diktatur. Das deutsche Grundgesetz bekennt sich zu einer "wehrhaften Demokratie". Ob die türkische Verfassungsrechtsordnung den aktuellen Bedrohungen standhalten wird, ist mehr als fraglich. Dass den Studierenden die Gefahren wohl bewusst sind, zeigten besorgte Nachfragen. Wie wird die Meinungsfreiheit in Deutschland geschützt? Inwieweit dient der Föderalismus dem Minderheitenschutz? Wie wird die Unabhängigkeit der Justiz gesichert? Nehmen die Politiker die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hin, auch wenn sie anderer Auffassung sind? Wäre eine 10%-Sperrklausel, wie es sie in der Türkei gibt, in Deutschland verfassungsgemäß?

Es bestehen kaum Zweifel: Die meisten Türken stehen hinter ihrem Präsidenten. Aber Demokratie ist mehr als Mehrheitsentscheidung. Ohne Rechtsstaatlichkeit gibt es keine Demokratie. Für Verfassungsjuristen ist die Lage besonders brenzlig. Manche denken gar an eine Auswanderung. Die Türkei wird derzeit von heftigen Krisen erschüttert. Steht sie am Rande eines Bürgerkrieges? Voller Mitleid verließ Pünder die Metropole am Bosporus, die doch eine so wunderbare Mischung aus Orient und Okzident, aus Religiosität und Säkularität, aus Mittelalterlichkeit und Moderne sein könnte.

Tief erschüttert hat ihn, dass wenig später auf der İstiklal Caddesi, der Haupteinkaufsstraße im bohèmen Stadtteil Beyoğlu, ganz in der Nähe eines Cafés, in dem er viel Zeit verbrachte, ein Selbstmordattentäter des "Islamischen Staates" fünf Menschen in den Tod riss und viele verletzte. Es steht zu befürchten, dass Erdoğan den Terror als Vorwand für weitere Repressionen nutzt. Pünders Botschaft ist: Wir müssen diejenigen in der Türkei unterstützen, die sich für ein friedliches Zusammenleben einsetzen. Unsere Partnerschaft mit der Bilgi-Universität ist derzeit wichtiger denn je.

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