Dr. Maciejewski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Steuerrecht der Bucerius Law School. An seiner preisgekrönten Promotionsarbeit wird man künftig in der Steuerrechtswissenschaft wohl nicht mehr vorbeikommen. Im Interview stellt er seine Arbeit vor und erklärt, wie Verfassungsrecht und Steuerrecht zusammenhängen.
Die Jury des Promotionspreises hat die verfassungsrechtliche Grundlagenarbeit Ihrer Dissertation hervorgehoben. Inwiefern ist das Verfassungsrecht für steuerrechtliche Nichtanwendungsgesetze bedeutend?
Die Nichtanwendungsgesetze tangieren die Gewaltenteilung, das Rückwirkungsverbot und den effektiven Rechtsschutz. Deshalb ist das Verfassungsrecht für sie sehr relevant. Es ist ein Thema, das seit 30 Jahren immer wieder zu Diskussionen führt. Gleichwohl fehlte bisher eine umfassende Aufarbeitung.
Und die haben Sie mit Ihrer Promotion vorgelegt.
Ja. Der Gesetzgeber erlässt Nichtanwendungsgesetze, damit eine bestimmte Entscheidung des Bundesfinanzhofs nicht angewendet wird. Dessen Entscheidungen betreffen oft Millionen von Steuerpflichtigen. Ein Beispiel: Ein Student will seine Studienkosten abziehen, klagt, und der BFH entscheidet darüber. Dann ist das Ergebnis maßgeblich für alle Studierenden.
Und es kann große Auswirkungen auf das gesamte Steueraufkommen haben. Deshalb kommt es immer wieder vor, dass wenige Wochen nach einer BFH-Entscheidung ein Gesetz erlassen wird, in dem das exakte Gegenteil steht. Und häufig gilt diese Neuregelung dann nicht nur für die Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit.
Warum darf der Gesetzgeber das?
Dass der Gesetzgeber Rechtsentwicklungen korrigieren kann, steht grundsätzlich nicht infrage. An Gerichtsurteilen kann man durchaus erkennen, wenn es Regelungsbedarf gibt. Im Steuerrecht wird trotzdem schon lange über diese Frage diskutiert, weil viele Wissenschaftler*innen sagen: Detailfragen zu entscheiden ist eine genuin rechtsprechende Tätigkeit, und der Gesetzgeber entmachtet mit der nachträglichen Korrektur die Gerichte.
Auch den Begriff des Nichtanwendungsgesetzes gibt es in anderen Rechtsgebieten gar nicht. Und er ist negativ konnotiert. Ich habe mir also angeschaut, ob es im Steuerrecht eine andere Ausgangssituation gibt und ob die dazu führt, dass man hier zu anderen Ergebnissen kommen muss.
Und, ist es eine andere Situation?
Ja. Im Steuerrecht kommt es oft vor, dass viele Menschen auf ein bestimmtes Urteil warten. Das liegt daran, dass die Finanzämter die Steuergesetze weitgehend einheitlich anwenden und Gerichtsverfahren über Streitfragen deshalb häufig zu Musterverfahren werden. Das Urteil des BFH hat dann eine sehr hohe Wertigkeit.
Und wenn es dann nur für denjenigen/diejenige gilt, der/die zufällig Kläger*in im Musterverfahren war und ansonsten aus der Welt geräumt wird, ist das natürlich fragwürdig. Ich bin aber trotzdem dazu gekommen, dass das nicht gegen die Gewaltenteilung verstößt. Probleme – auch für die Effektivität des Rechtsschutzes – gibt es aber, wenn mit dem Gesetz auch alle vergangenen Fälle geregelt werden.
Rückwirkende Nichtanwendungsgesetze sind also nicht legitim?
Es gibt einen Aspekt, unter dem der Gesetzgeber das meiner Ansicht nach rechtfertigen kann: wenn durch das Nichtwendungsgesetz eine kontinuierliche Rechtslage hergestellt wird. Wir haben immer wieder die Situation, dass die Gerichte lange in eine bestimmte Richtung entschieden haben oder eine Frage in der Rechtspraxis eigentlich geklärt war. Wenn durch ein Urteil dann völlig unvermittelt alles anders sein soll, ist es meiner Ansicht nach legitim, dass der Gesetzgeber die alte Rechtslage wieder herstellt.
Aber es gibt doch Rechtsfortbildung durch die Gerichte.
Natürlich. Deshalb braucht es eben diese besondere Rechtfertigung. Es muss darum gehen, Rechtskontinuität zu einem Zustand wiederherzustellen, der vorher da war.
Dürfte der Gesetzgeber das aus rein fiskalischen Gründen tun, weil ihm eine Gerichtsentscheidung zu teuer wird?
Es gibt durchaus Fälle, in denen das aus fiskalischen Gründen erfolgt und das allein reicht nicht. Häufig werden dem Gesetzgeber aber auch zu Unrecht „rein fiskalische Gründe“ unterstellt. Entscheidungen, die zu hohen Steuerausfällen führen, bringen oft auch eine Verwerfung im Wettbewerb mit sich, die mit dem Nichtanwendungsgesetz korrigiert werden soll. Das ist legitim.
Somit haben Sie in Ihrer Promotion selbst Kriterien definiert, wann Nichtanwendungsgesetze zulässig sind und wann nicht. Haben Sie dem Bundesverfassungsgericht damit Arbeit abgenommen?
Der Gedanke, dass Nichtanwendungserlasse verfassungskonform sind, wenn sie Rechtskontinuität herstellen, ist in der Tat neu. Das ist vielleicht der innovative Teil der Arbeit. Mal schauen, ob das auf fruchtbaren Boden fällt. Das wäre natürlich schön.