Frieling erhielt die Auszeichnung für seine 2017 veröffentlichte Dissertation „Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers. Fallgruppen verbindlicher Willensäußerungen“.
Die aus renommierten Staatsrechtslehrern, Historikern und Politikwissenschaftlern zusammengesetzte siebenköpfige Jury hatte die Dissertation von Tino Frieling aus einem Bewerberfeld von 42 eingereichten Publikationen ausgewählt, weil sie „in verständlicher und inhaltlich präziser Form ein altes rechtswissenschaftliches Problem auf neue und originelle Art und Weise angeht“. Denn die Frage, ob und wie Gesetzesmaterialien für die Gesetzesauslegung eine Rolle spielen, ist so alt wie die Gesetzgebung. In seiner Untersuchung entwickelt Frieling die Idee, diese Frage differenziert nach verfassungsrechtlichen Aufgaben der Gesetzgebung und nach dem verfassungsrechtlichen Status verschiedener Arten von Materialien im Verfahren zu behandeln.
Dabei wird nach Ansicht der Jury der Bezug der Arbeit zu Demokratie und Parlamentarismus immer wieder deutlich, etwa wenn der Verfasser kenntnisreich und detailgenau auf die Gesetzesmaterialien unter Berücksichtigung der Geschäftsordnung des Bundestages eingehe. Gleichermaßen erhellend seien auch die Ausführungen zur aktuellen Praxis der Gesetzesauslegung, in denen der Verfasser belege, dass die Gesetzesmaterialien in jüngerer Zeit verstärkt als Quelle zur Erforschung des gesetzgeberischen Willens und als Methode der Gesetzesinterpretation herangezogen und akzeptiert werden.
Die Juryvorsitzende Prof. Dr. Suzanne S. Schüttemeyer, Politikwissenschaftlerin an der Universität Halle-Wittenberg, erläuterte, zu etwa 40 Prozent seien politikwissenschaftliche Arbeiten eingereicht worden, im Übrigen Arbeiten aus der Rechtswissenschaft und der Geschichtswissenschaft. Auf die Frage der Moderatorin Heike Schmoll, Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ob es in der Juryauch mal Streit gebe, sagte sie, die Entscheidung für einen Preisträger sei ein ein „harter“, zugleich aber auch „angenehmer und fruchtbarer“ Prozess. Die Entscheidung müsse nach den vorhandenen Kriterien abgewogen werden.
Jurymitglied Prof. Dr. Christian Calliess stellte als Laudator die Intention und die Ergebnisse er preisgekrönten Arbeit vor. Frielings Fragestellung sei gewesen, ob man aus den Gesetzesmaterialien den Willen des Gesetzgebers ermitteln kann und ob Gerichte bei der Auslegung von Gesetzen auf den Willen des Gesetzgebers rekurrieren sollen. Frieling baue transparent eine methodische Brücke von den Gesetzesmaterialien zum Willen des Gesetzgebers. Dabei gehe es um den Willen des Gesetzgebers insgesamt, nicht um einzelne Äußerungen von am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen. Allein darauf zu rekurrieren wäre willkürlich. Die Arbeit vermittele einen Weg, den Willen des Gesetzgebers im Hinblick auf die Auslegung von Gesetzen zu stärken und Willkür zu vermeiden.
Um seinen Ansatz an einem Beispiel zu verdeutlichen, schilderte der Preisträger die Auslegung eines Gesetzes zur sachgrundlosen Befristung im Arbeitsrecht durch das Bundesarbeitsgericht. Das Gesetz lege fest, dass ein Arbeitsverhältnis nur einmal ohne Sachgrund befristet werden darf, danach nicht mehr. Das Gericht habe den Gesetzeszweck so gedeutet, dass Missbrauch verhindert werden solle, dass nach drei Jahren aber kein Missbrauch mehr vorliege und erneut sachgrundlos befristet werden dürfe.
Der Gesetzgeber habe aber nur von einer einmaligen Befristung gesprochen, sagte Frieling. Die Möglichkeit, nach drei Jahren erneut befristen zu können, sei im Gesetzgebungsverfahren im Bundestag sogar erörtert, aber verworfen worden. Im Bundestag habe das Verständnis geherrscht: „Einmal befristen, dann nicht mehr.“
An dieser Stelle intervenierte Bundestagspräsident Schäuble und hob die Bedeutung des Ausschussberichts hervor. Der Bericht des federführenden Ausschusses zum Abschluss seiner Beratungen vor der Verabschiedung des Gesetzes im Parlament habe eine stärkere Qualität als etwa die Gesetzesbegründung im Entwurf der Bundesregierung. Schäuble sprach ausdrücklich das „Strucksche Gesetz“ an, die Aussage des früheren SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck, wonach kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es bei ihm eingegangen ist.
Suzanne S. Schüttemeyer ergänzte, häufig werde gesagt, das Parlament nicke nur noch ab. Frielings Arbeit, so speziell sie auch klinge, könne dazu beitragen, Missverständnisse über die Rolle des Parlaments auszuräumen. Man müsse genau schauen, wer wo Einfluss ausübt, und die Öffentlichkeit müsse zur Kenntnis nehmen, dass eine Vielzahl von Akteuren Einfluss nimmt: „Das sind Blumen, die oft im Verborgenen blühen.“
Christian Calliess verwies auf die Forderung des Bundesverfassungsgerichts von 2014, dass das Parlament sich aktiv mit den sogenannten OMT-Verfahren der Europäischen Zentralbank zum Ankauf von Staatsanleihen befasst. Das seien parlamentarische Prozesse, die nicht in der Öffentlichkeit stattfinden. Es sei darum gegangen, Transparenz herzustellen, „was das Parlament eigentlich macht“, sagte Calliess. „Wir müssen mehr in den Gesetzgebungsprozess hineinschauen, um ihn zu verstehen.
Der 1985 geborene Tino Frieling studierte Jura an der Bucerius Law School und an der University of Sydney. Nach der ersten Staatsprüfung war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter dieser privaten, staatlich anerkannten Hochschule für Rechtswissenschaft mit Promotions- und Habilitationsrecht tätig. 2017 wurde der dort zum Dr. iur. promoviert. Im selben Jahr legte er auch die zweite juristische Staatsprüfung ab. Seitdem arbeitet er als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Zivilprozessrecht der Bucerius Law School.
Der Wissenschaftspreis wurde vom Deutschen Bundestag 1989 aus Anlass seines 40-jährigen Bestehens eingeführt und wird seit 1997 im zweijährlichen Turnus verliehen. Er ist mit 10.000 Euro dotiert und würdigt hervorragende wissenschaftliche Arbeiten, die zur Beschäftigung mit Fragen des Parlamentarismus anregen und zu einem vertieften Verständnis parlamentarischer Praxis beitragen.
Derzeitige Mitglieder der Jury des Wissenschaftspreises sind:
- Prof. Dr. Christian Calliess, Freie Universität Berlin, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht
- Prof. Dr. Pascale Cancik, Universität Osnabrück, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Geschichte des europäischen öffentlichen Rechts und Verwaltungswissenschaften
- Prof. Dr. Thomas Mergel, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Geschichtswissenschaft – Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts
- Prof. Dr. Christoph Möllers, Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie
- Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für Theorie der Politik
- Prof. Dr. Andreas Rödder, Universität Mainz, Historisches Seminar – Neueste Geschichte
- Prof. Dr. Suzanne S. Schüttemeyer, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Lehrbereich Regierungslehre und Policyforschung