Neuaufstellung der (europäischen) Marktüberwachung

Product-Compliance-Verantwortliche sollten die neuen Regelungen kennen

Am 16.07.2021 ist eine der wichtigsten Änderungen der letzten Jahre im europäischen Produktsicherheitsrecht in Kraft getreten. Die Marktüberwachungsverordnung (EU 2019/1020) ("MÜ-VO") betrifft nahezu alle Non-Food-Branchen und stellt erhöhte Anforderungen an Unternehmen. Insbesondere Plattformbetreiber wie Amazon und Co. sehen sich mit zunehmenden Pflichten konfrontiert. Und die Marktaufsicht erhält einige zusätzliche Möglichkeiten, um unsichere Produkte vom Europäischen Markt fernzuhalten. In Deutschland hat der Gesetzgeber den Anwendungsbereich der MÜ-VO auch auf den nicht-harmonisierten Bereich ausgeweitet und ein eigenes Marktüberwachungsgesetz geschaffen.

Das Thema Marktüberwachung ist mitnichten neu. Schon mit der Verordnung (EU) 765/2008 gab es eine europäische Marktüberwachungsverordnung, die den Behörden eine Vielzahl von Möglichkeiten gab, um sicherzustellen, dass nur sichere Produkte in die EU kommen. Und auch in Deutschland gab es mit dem Produktsicherheitsgesetz ein umfangreiches Regelwerk, das neben Anforderungen für das "rechtskonforme" Inverkehrbringen von Produkten auch umfassende Regelungen für die Marktüberwachung enthielt. Doch die gesetzlichen Regelungen konnten zunehmend den wachsenden Herausforderungen eines globalen Marktes, den komplexer werdenden Lieferketten und neuen Geschäftsmodellen nicht mehr gerecht werden. Insbesondere bei online angebotenen Produkten, bei Angeboten über Plattformen oder bei Unternehmen, die Waren nicht verkaufen, sondern lediglich deren "Abwicklung" organisieren (sog. Fulfilment-Dienstleister) bestanden erhebliche Zugriffslücken im System. Die Neustrukturierung des Marktüberwachungsrechts sollte die Marktüberwachung effizienter und schlagkräftiger machen. Die EU hat dafür den Weg über eine direkt geltende Verordnung gewählt, damit in allen Mitgliedsstaaten die gleichen behördlichen Befugnisse bestehen.

 

Für wen gilt die MÜ-VO?

Interessanterweise hat der europäische Gesetzgeber die MÜ-VO aber nicht für alle möglichen Produkte vorgesehen, was im Sinne einer effizienten Marktüberwachung sicherlich nahegelegen hätte. Die MÜ-VO gilt vielmehr für den harmonisierten Bereich des europäischen Produktrechts; Anwendung findet sie auf über 70 Produktgruppen, von Maschinen über Spielzeug, elektronische Produkte, Textilien, Fahrzeuge bis hin zu Medizinprodukten, wobei nicht zwischen Verbraucherprodukten und Nicht-Verbraucherprodukten unterschieden wird. Wichtige Teile der MÜ-VO gelten indes nur für einen eingeschränkten Anwendungsbereich (siehe dazu sogleich). Die MÜ-VO selbst stellt keine produktbezogenen Anforderungen auf. Es finden sich daher keine Regelungen, welche Schutzvorkehrungen konstruiert werden müssen oder welche Stoffe und in welchen Konzentrationen (nicht) verwendet werden dürfen. Das bleibt weiterhin den konkreten Produktvorschriften (z.B. Maschinen- oder Spielzeugrichtlinie) vorbehalten. Die MÜ-VO knüpft ihre Pflichten an das Bereitstellen von Produkten durch die Wirtschaftsakteure. Zu diesen zählt – neben den altbekannten Herstellern, Bevollmächtigten, Einführern und Händlern – nun auch der Fulfilment-Dienstleister.


Neu: Produkte müssen einen in der EU niedergelassenen Wirtschaftsakteur angeben

Seit dem 16.07.2021 gilt, dass Produkte nur dann in Verkehr gebracht werden dürfen, wenn ein in der EU niedergelassener Wirtschaftsakteur existiert (sog. Produktverantwortlicher). Diese Pflicht sowie einige weitere Pflichten betrifft aber nicht alle 70 Produktgruppen, sondern lediglich 18. Dabei handelt es sich um so wesentliche Bereiche wie Maschinen, Bauprodukte, persönliche Schutzausrüstung, Spielzeug oder elektronische Produkte wie Handys und Fernseher. Ohne die Existenz des Produktverantwortlichen besteht ein Inverkehrbringensverbot. Zwar gab es schon bislang Pflichten, einen Wirtschaftsakteur auf den Produkten anzugeben. Ein in der EU niedergelassener Wirtschaftsakteur war indes nicht bei allen Produkten gefordert (z.B. bei Maschinen). Es ist erkennbar, dass es der EU darauf ankam, einen in der EU "greifbaren" Verantwortlichen zu haben, da nur so eine effiziente Marktüberwachung erreicht werden kann. Dementsprechend legt die MÜ-VO auch fest, dass dieser Produktverantwortliche im Zusammenhang mit dem Produkt angegeben werden muss.


Verantwortlichkeit des Fulfilment-Dienstleisters

Da Fulfilment-Dienstleister zum Wirtschaftsakteur werden, können sie auch Adressat von Maßnahmen der Marktaufsicht sein. Das ist neu, denn der Fulfilment-Dienstleister war bislang für die Behörden nicht wirklich zu greifen, da er regelmäßig weder Hersteller ist, die Produkte auch nicht einführt und sie definitionsgemäß auch nicht verkauft. Ihn können künftig als Produktverantwortlichem im Sinne der MÜ-VO Pflichten treffen, die gefühlt eher beim Hersteller, Importeur oder Händler anzusiedeln wären.


Frühe Pflichten im Onlinehandel

Erklärtes Ziel der MÜ-VO ist auch, möglichst frühzeitig Zugriff auf online angebotene Produkte zu bekommen. So gilt nun ein Produkt bereits als auf dem Markt bereitgestellt, wenn sich das Angebot an Endbenutzer in der Union richtet. Das ist dann der Fall, wenn die Tätigkeiten in irgendeiner Weise auf einen Mitgliedsstaat ausgerichtet sind, z.B. aufgrund der Angabe von Liefergebieten, der Möglichkeit in EUR zu zahlen, der verwendeten Sprache etc. Die Relevanz dieser Regelung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn im Zeitpunkt des erstmaligen Bereitstellens (= Inverkehrbringen) wären entsprechend des europäischen Grundgedankens im Produktrecht alle Anforderungen an das Produkt einzuhalten, die bislang erst einzuhalten gewesen wären, wenn das Produkt physisch seinen Besitzer wechselt. Häufig existiert das Produkt noch gar nicht (vollständig) im Zeitpunkt des Onlineangebotes. Im derzeitigen Arbeitsentwurf der Europäischen Kommission für die Überarbeitung des Leitfadens zur Umsetzung der unionsrechtlichen Produktvorschriften ("Blue Guide") wird entsprechend erläutert, dass diese Rechtsfolgen nur für Produkte gelten sollen, die bereits physisch hergestellt worden sind. Wenig hilfreich bei der derzeitigen Auslegung dieser Frage, denn zum einen handelt es sich nur um einen Arbeitsentwurf, zum anderen ist der Blue Guide aber auch rechtlich unverbindlich. Die derzeitige Rechtslage ist somit unsicher.


Onlineplattformen sind zum Handeln aufgefordert

Onlineplattformen sind verpflichtet, mit der Marktaufsicht zusammenzuarbeiten. Diese kann künftig verlangen, dass im Falle eines ernsten Risikos Inhalte von Websites und sonstigen Online-Schnittstellen entfernt werden oder dass eine ausdrückliche Anzeige eines Warnhinweises angebracht wird. Sofern dem nicht nachgekommen wird, können die Behörden die Anbieter anweisen, den Zugang zur Online-Schnittstelle einzuschränken. Im Extremfall bedeutet dies, dass eine Website abgeschaltet werden kann. Dies ist eine bislang einmalig weitgehende Möglichkeit der Behörden, auf nicht konforme Produkte zu reagieren.


Möglichkeiten der Behörden wurden geschärft

Generell wurden die den Behörden zur Verfügung stehenden Mittel durch die MÜ-VO deutlich geschärft. Erstmals ist es zum Beispiel zulässig, unter falscher Identität Produktproben zu erwerben (sog. Mystery Shopping) oder Produkte im Wege der Nachkonstruktion zu überprüfen (Reverse Engineering). Die MÜ-VO legt großen Wert darauf, dass die Behörden vor allem auch formale Aspekte prüfen und zum Anlass nehmen können, die Bereitstellung von Produkten zu verhindern. Erste Rückmeldungen aus dem Markt zeigen, dass insbesondere der Zoll hiervon deutlich mehr Gebrauch macht als noch vor Inkrafttreten der MÜ-VO.

 

Marktüberwachungsgesetz in Deutschland / Weitere europäische Schritte zu erwarten

Die MÜ-VO bedarf als Verordnung keiner Umsetzung in das nationale Recht der Mitgliedsstaaten. Lediglich im Hinblick auf Sanktionen wie Ordnungswidrigkeiten oder Strafvorschriften bedurfte es einer Regelung im nationalen Recht. Nichtsdestotrotz hat der deutsche Gesetzgeber die MÜ-VO zum Anlass genommen, das bisher im Produktsicherheitsgesetz geregelte Recht der Marktüberwachung in ein eigenes Stammgesetz zu übertragen, das Marktüberwachungsgesetz. Zentrales Anliegen dabei war, dass – wie es schon im Produktsicherheitsgesetz der Fall war – auch für den nicht-harmonisierten Produktbereich eine einheitliche Marktüberwachung in Deutschland besteht. Das Marktüberwachungsgesetz baut dabei auf der Verweistechnik auf und verweist an vielen Stellen in die MÜ-VO. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch der europäische Gesetzgeber nun (warum erst jetzt?) den Schritt unternimmt, auch für nicht-harmonisierte Produkte (allerdings wiederum nur für Verbraucherprodukte) die bestehende Produktsicherheitsrichtlinie in eine Produktsicherheitsverordnung zu übertragen und darin (wiederum die Frage, warum dort?) zentrale Aspekte der MÜ-VO übernimmt. Weshalb der europäische Gesetzgeber sich nicht dazu durchringen konnte, in einer einheitlichen Marktüberwachungsverordnung sowohl den harmonisierten als auch den nicht-harmonisierten Bereich für Verbraucher und Nicht-Verbraucherprodukte zu regeln, bleibt unklar. Da ist der deutsche Gesetzgeber mit seinem Marktüberwachungsgesetz bereits heute weiter, als es die EU nach der nächsten Reform sein wird.

Fazit

Unternehmen sind gut beraten, wenn sie die MÜ-VO und das Marktüberwachungsgesetz ernst nehmen. Insbesondere Unternehmen, die ihre Produkte online anbieten und Unternehmen, die bislang keinen in der EU niedergelassenen Ansprechpartner hatten, müssen reagieren. Die Möglichkeiten der Behörden wurden deutlich erweitert. Es bleibt aber natürlich abzuwarten, ob die Mitgliedsstatten, die für den Vollzug verantwortlich sind, auch die notwendigen personellen Ressourcen zur Verfügung stellen, um die Verordnung effizient umzusetzen. Erste Erfahrungen aus der Praxis zeigen, dass die Behörden in der Tat aktiver sind als vor Inkrafttreten der MÜ-VO.

 

Dr. Ulrich Becker ist u.a. Dozent beim jährlich stattfindenden „Bucerius Compliance Officer“, der Bucerius Executive Education. Mehr Informationen zu dem Hamburger Zertifikatsprogramm, das im Januar 2022 wieder an der Bucerius Law School in Hamburg startet sowie die Möglichkeit zur Anmeldung finden Sie hier.

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Dr. Ulrich Becker, Partner bei CMS Hasche Sigle Partnerschaft von Rechtsanwälten und Steuerberatern mbB

Hamburg