Der Rechtsmarkt braucht vielfältig ausgebildete Jurist*innen

Jura-Absolvent*innen müssen heute mehr können, als Fälle zu lösen. Das stellt Hochschulen vor eine Herausforderung. (Teil 2/2)

Der vorherige Leitartikel Es geht nicht nur ums Geld behandelt das Thema der Jurist*innenknappheit aus Sicht des Rechtsmarkts, am Beispiel von Kanzleien. Dieser Leitartikel führt das Thema fort und blickt nun auf die Jurist*innenknappheit aus Sicht der Ausbildungsstätten.

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Viele Studierende, die ihr Studium an einer Hochschule aufnehmen, waren zuvor als Schüler*innen in Bewegungen wie Fridays for Future aktiv. Sie haben mit ihren Mitstreiter*innen über den Klimawandel diskutiert, gemeinsam politische Forderungen erarbeitet und Woche um Woche für diese demonstriert. Junge Leute bringen die Erfahrung und auch den Anspruch mit, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Dann beginnen sie Jura zu studieren – und sitzen alleine am Schreibtisch, um Baurecht, Kommunalrecht und Staatshaftungsrecht zu lernen.

Im Studium müssen angehende Jurist*innen vor allem Fälle lösen, Gerichtsentscheidungen lernen und sich in spezifische Rechtsfragen einarbeiten. So sah das Studium damals aus und so sieht es auch heute noch aus. Die Quote der Abbrecher*innen an den Hochschulen im Bundesgebiet ist so hoch wie in kaum einem anderen Fach. Nur rund die Hälfte der Erstsemester kommt beim ersten Staatsexamen an, beim zweiten sind es noch einmal weniger.

Die Zahl der Absolvent*innen sinkt somit seit Jahren: 2018, so die jüngsten Zahlen, haben nur noch 7800 Studierende das zweite Staatsexamen gemacht. 1999 waren es noch mehr als 10 000. Damals war die Rede von einer Jurist*innenschwemme. Heute muss von einem Jurist*innenmangel gesprochen werden.

Fakultäten für Rechtswissenschaften können es sich zunehmend nicht mehr leisten, ein Studium anzubieten, das an den Bedürfnissen vieler junger Studierender vorbeigeht. Zumal sich nicht nur ihre Ansprüche gewandelt haben. Auch Arbeitgeber*innen brauchen heute mehr von jungen Jurist*innen, als einen Sachverhalt durchsubsumieren zu können.

Jurist*innen arbeiten mit Kolleg*innen anderer Fachrichtungen zusammen

Juristische Berufe werden immer vielfältiger. Wer in einem Konzern tätig ist, arbeitet heute oft international. In Unternehmen oder NGOs sind Jurist*innen in einem Team mit Expert*innen anderer Fachrichtungen wie etwa Ökonom*innen oder Soziolog*innen tätig. Große Kanzleien entwickeln Nachhaltigkeitsstrategien.

Zudem werden viele Arbeitsprozesse zunehmend digitaler. In standardisierten Rechtsfällen wird längst Künstliche Intelligenz eingesetzt. Und es findet immer mehr eine Automatisierung juristischen Tätigkeiten statt (Legal Tech), durch die das Recht zunehmend zu einer Dienstleistung wird, die online abzurufen ist. Nur im Staatsexamen sitzen Studierende nach wie vor fünf Stunden alleine am Schreibtisch und dürfen noch nicht einmal eine juristische Datenbank oder Kommentare nutzen.

Das muss sich ändern. „Um dem Jurist*innenmangel entgegenzuwirken, müssen wir das Jurastudium attraktiver machen,“ sagt Prof. Felix Hanschmann, der sich als Lehrstuhlinhaber für Kritik des Rechts an der Bucerius Law School mit der Qualität der juristischen Ausbildung auseinandersetzt. 

Studierende müssen besser auf den Rechtsmarkt vorbereitet werden

Die Bucerius Law School arbeitet daran, Studierende gezielter auf den Rechtsmarkt vorzubereiten. Die Pflichtpraktika sollen den Studierenden z.B. schon früh einen Einblick in mögliche juristische Berufsfelde zu geben. Zudem kommen regelmäßig Jurist*innen aus der Praxis an die Law School, um über ihre Tätigkeit zu berichten.

Es gibt Lehrangebote beispielsweise im Umwelt- und Energierecht und damit in Themen, die viele junge Menschen umtreiben. Außerdem lernen die Studierenden durch das Studium generale und die Grundlagenvorlesungen in Rechtstheorie, Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie, über das eigene Kernfach hinauszublicken. Das ist weit mehr, als an staatlichen Universitäten üblich ist.

Der Spielraum der einzelnen Hochschulen bleibt jedoch begrenzt. Die Prüfungsordnung und schließlich auch das Staatsexamen sind einheitlich, das wird im Landesrecht geregelt. Und der Prüfungsstoff, den die Hochschulen bis zum Examen vermitteln müssen, ist komplex. Studierenden bleibt wenig Zeit, über den Examensstoff hinaus noch Lehrveranstaltungen zu besuchen.  

Um das Studium an den modernen Rechtsmarkt anzupassen, bräuchte es deshalb nicht nur einzelne Vorlesungen im Energierecht oder den Zugang zur Datenbank für alle Studierenden. Es bräuchte eine umfassende Reform der Prüfungsordnungen, so Hanschmann.

Die Prüfungsordnung muss reformiert werden!

Laut Hanschmann wäre der erste und zentrale Schritt, das Studium zu entschlacken. So könnte überhaupt Raum für Wahlmöglichkeiten, transdisziplinären Einblicke und Aufklärungen über die gesellschaftlichen Bezüge des Rechts geschaffen werden. Andererseits könne es nicht nur darum gehen, alte Inhalte durch neue zu ersetzen.

Hanschmann ist davon überzeugt, dass es ganz neue didaktische Methoden braucht: Dass die Studierenden mehr lernen müssen, in Gruppen zu arbeiten. Dass sie dabei technische Hilfsmittel einsetzen sollten. Dass sie Urteilsanalysen schreiben statt nur Falllösungen, und dass sie lernen kreative Lösungen für juristische Probleme zu entwickeln.

Dies gilt auch für die Examensprüfung. Auch die muss sich Hanschmanns Überzeugung nach ändern, wenn das Jurastudium für junge Menschen eine attraktive Option sein soll. Von der Hälfte der ursprünglichen Erstsemester, die überhaupt bis zum ersten Staatsexamen durchhalten, fallen dann auch noch 27 Prozent durch. Motivation sehe anders aus.

„Die Leute schreiben über vier Jahre zahlreiche Klausuren, und am Schluss kommt es dann nur auf die Leistung innerhalb von zwei Wochen an“, kritisiert Hanschmann. „Und dann sitzen sie bei Klausuren alleine und ohne technische Hilfsmittel da und müssen Fälle lösen, über die zuvor mehrere Richter*innen gemeinsam beraten haben.“ Das ist nicht nur realitätsblind, sondern in hohem Maße demotivierend.

Studium und Berufspraxis klaffen auseinander

Dass Studium und Berufspraxis auseinanderklaffen, hat auch Antonia Siebert bereits erfahren. Sie studiert an der Bucerius Law School im 5. Trimester und hat kürzlich ihr erstes Praktikum in einer Großkanzlei gemacht. Dort standen alle juristischen Standardkommentare in einem großen Regal, alle in der neuesten Auflage.

Benutzt habe sie aber niemand, erzählt Siebert: Die Anwältinnen und Anwälte haben bei ihren Recherchen auf juristische Datenbanken wie Beck Online und Juris gesetzt. „Es wäre wichtig, schon im Studium die Anwendung der Recherchetools zu lernen. Auf das Staatsexamen bereitet das Studium an der Law School uns sehr gut vor“ so Siebert. Auf das Berufsleben leider nicht so sehr. Studierende müssen Texte z.B. im Gutachtenstil schreiben, später in der Praxis jedoch nicht.

Das Jurastudium ist auch psychisch herausfordernd

Wäre das Staatsexamen mehr an der späteren Berufspraxis orientiert, würde das die Studierenden nicht nur besser auf den Rechtsmarkt vorbereiten. Es würde ihnen auch gesundheitlich besser gehen und sie motivieren, ein gutes Examen abzulegen. Zurzeit erzeugt das Jurastudium einen enormen psychischen Druck mit entsprechenden gesundheitlichen Erkrankungen, sagt Hanschmann.

Viele Studierende haben chronische Stressbelastungen, Erschöpfungszustände bis hin zu Depressionen. Viele wollen sich dem nicht aussetzen, sie brechen ab oder entscheiden sich gleich für ein Studium, das mehr Gestaltungsspielraum lässt. So fehlen auf dem Rechtsmarkt talentierte Nachwuchskräfte, die mit ihren Kompetenzen dringend benötigt würden.

Der Bachelor muss aufgewertet werden

Ein Weg, mehr Jurist*innen für den Rechtsmarkt auszubilden, wäre laut Haschmann auch, den Bachelor aufzuwerten. Der sei kein Abschluss zweiter Klasse, sondern einer, der direkt in einen interessanten juristischen Beruf hineinführen könne.

In vielen Unternehmen arbeiten Wirtschaftsjurist*innen, die ihren Bachelor an einer Fachhochschule gemacht haben., „Und was spricht dagegen, nach dem Bachelor in Rechtswissenschaften noch einen Master in Kulturwissenschaften, Medienwissenschaften oder Politik zu machen?“ so Hanschmann.

Die Hochschulen müssen so divers wie die Arbeitswelt sein

Um junge Talente ins Jurastudium zu bringen, bräuchte es aber noch einen ganz anderen Ansatz: Ein Diversitätsmanagement an den Hochschulen. Große Unternehmen und Konzerne arbeiten längst global vernetzt, in ihnen wird bewusst auf eine internationale, diverse Belegschaft gesetzt. An den Jurafakultäten der deutschen Hochschulen ist die Zahl der Absolvent*innen mit Migrationshintergrund hingegen nach wie vor marginal.

Bei den Professor*innen, die als Role Model wirken können, sieht es noch düsterer aus. Und die Abbrecherquote ist am höchsten unter Studierenden aus nichtakademischen Elternhäusern. Um das zu ändern, bräuchte es auf dem Unicampus „ein wertschätzendes, respektvolles, antisexistisches und antirassistisches Klima ,“ so Hanschmann.

Und nicht zuletzt die richtige Technik. Das sagt Studentin Antonia Siebert. In Unternehmen wird inzwischen sogar künstliche Intelligenz im Recht eingesetzt, und die Jurastudierenden dürfen im Examen noch nicht einmal ihren Computer benutzen. Sie schreiben mit der Hand. So wie es an der Uni eben immer schon war – und in der Berufspraxis draußen schon lange niemand mehr tut. Das soll sich nun bald ändern. Immerhin.

Text

Elke Spanner

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