Sozialdemokratie in der Krise?

Einst prägende politische Kraft Europas und Stimme der Arbeiterklasse steht die Sozialdemokratie heute massiv unter Druck

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Einst prägende politische Kraft Europas und Stimme der Arbeiterklasse steht die Sozialdemokratie heute massiv unter Druck: Stimmenverluste, populistische Konkurrenz von rechts und links sowie tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen fordern ein neues, zukunftsfähiges Profil. 

Am 5. Februar 2025 diskutierten im Rahmen des Studium generale der Bucerius Law School Pauline Fröhlich, Prof. Dr. Tarik Abou-Chadi und Dr. Linus Westheuser im Auditorium der Bucerius Law School über Ursachen, Symptome und mögliche Auswege aus der Krise. Fröhlich ist stellvertretende Geschäftsführerin der Denkfabrik Das Progressive Zentrum, Abou-Chadi lehrt Politikwissenschaft in Oxford, Westheuser forscht an der Humboldt-Universität Berlin und wurde als Co-Autor des Buchs Triggerpunkte (mit Prof. Dr. Steffen Mau und Dr. Thomas Lux) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Die Journalistin Vivien Leue (u. a. Deutschlandfunk) moderierte das Gespräch. 

 

Krise? Welche Krise? 

Die Diskussion beleuchtete strukturelle Verschiebungen, Wählerwanderungen und neue gesellschaftliche Narrative. Wie verändert sich das Verhältnis der sozialdemokratischen Parteien zu ihrer traditionellen Wählerschaft? Welche politischen Angebote ziehen heute – und welche stoßen ab? 

Prof. Abou-Chadi verwies zu Beginn auf die aktuell schlechten Umfragewerte der SPD – sie seien eine Momentaufnahme, die jedoch in ein langfristiges Muster passen. Seit den 1980er-Jahren habe sich die Sozialstruktur stark verändert; das klassische Arbeiter:innenmilieu sei kaum mehr greifbar. Daraus speise sich auch die Erzählung von einer nach rechts driftenden Arbeiterschaft – die empirisch allerdings differenzierter zu betrachten sei. So sei etwa in Frankreich eine direkte Wählerwanderung von der Sozialdemokratie zur radikalen Rechten nicht nachweisbar. 

Nicht nur die SPD, sondern beide ehemaligen Volksparteien seien vom Vertrauensverlust betroffen, so Abou-Chadi. Das Parteiensystem insgesamt sei fragiler, fragmentierter geworden. 

Gleichzeitig, so Westheuser, gebe es in Fokusgruppen aus der klassischen Arbeiterschaft durchaus das Gefühl, dass die SPD eigentlich „ihre“ Partei sei – doch die politische Entfremdung ist inzwischen groß. Eine zunehmend akademisierte und professionalisierte Politik habe sich von vielen ehemaligen Kernwähler:innen entfernt. 

Fröhlich und Westheuser stimmten darin überein, dass die SPD heute zu wenig als führende progressive Kraft wahrgenommen werde. Die Partei habe sich von ihrer reformerischen Tradition entfernt und schaue oft nur noch auf den Status quo, so Westheuser. Fröhlich ergänzte, seit der Jahrtausendwende sei die SPD mit Themen konfrontiert, die historisch nicht zu ihren Kernkompetenzen zählen – etwa Globalisierung und Migration. Zudem tue sich eine auf Kompromisse ausgerichtete Partei, deren Wählerschaft stark von älteren Menschen geprägt ist, schwer mit der zugespitzten, schnellen Medienlogik des 21. Jahrhunderts. 

 

Von den Auswegen 

Das Podium war sich einig: Die SPD muss wieder stärker eigene, unverwechselbare Antworten auf die Fragen der Zeit geben – und sichtbarer in den öffentlichen Diskurs eingreifen. Fröhlich forderte eine progressive Politik, die die tatsächlichen Ursachen sozialer Ungleichheit bekämpft – und weniger auf Stilfragen fokussiert ist. 

In der Migrationspolitik kritisierte Abou-Chadi die Strategie, sich rechtspopulistischen Positionen anzunähern: Studien hätten gezeigt, dass diese Art der Annäherung keine verlorenen Wähler:innen zurückhole. 

Fröhlich betonte die Bedeutung politischer Professionalität: Das Ampel-Vorhaben einer sozial-ökologischen Transformation sei in der Sache richtig, habe aber in der Umsetzung Schwächen gezeigt. Die SPD müsse zurück zu ihrem Erfolgsrezept: Politik für schlechter Gestellte machen – und dabei auch Besserverdienende mitnehmen. 

Westheuser plädierte dafür, der Wut der Bevölkerung wieder mehr Gehör zu verschaffen. Und Abou-Chadi formulierte zum Schluss eine zentrale Aufgabe der Sozialdemokratie: Es gelte zu verhindern, dass wirtschaftliche und politische Macht in einer Person verschmelzen – „einen deutschen Elon Musk“ dürfe es nicht geben. 

 

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ZSP

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