Pacta sunt servanda – dieser Grundsatz erscheint Juristinnen und Juristen auf der ganzen Welt selbstverständlich. Doch warum sollten wir Verträge, die wir einmal geschlossen haben, auch wirklich erfüllen? Diese Frage versuchte Professor Dr. Dr. Kai-Michael Hingst, Partner bei Noerr LLP und seit Dezember 2016 auch Honorarprofessor an der Bucerius Law School, in seiner Antrittsvorlesung am 26. Juni 2018 zu beantworten.
Zunächst erläuterte Hingst, dass der Grundsatz „Pacta sunt servanda“ nicht, wie man meinen könnte, aus dem römischen Recht stammt, sondern seinen Ursprung erst im Kirchenrecht hat. Heute ist dieser Grundsatz ein allgemeines Rechtsprinzip, der insbesondere den rechtlichen Charakter des Vertrags als Selbstbindung kennzeichnet.
Für die Frage, woher aber der Geltungsanspruch dieser Vertragsbindung stammt, zog Hingst vier Erklärungsmodelle bekannter Philosophen heran:
Für den niederländischen Philosophen Hugo Grotius ergibt sich die Bindungswirkung des Vertrags aus der Natur selbst. In seinem Werk „De jure belli ac pacis libri tres“ schreibt er: „Es entspricht nur dem Recht der Natur, Verträge zu halten. Denn irgendein Weg, sich zu verpflichten, ist für den Menschen notwendig, und ein natürlicherer als der Vertrag lässt sich nicht auffinden.“ Schon Gott würde sich durch Vertrag gegenüber den Menschen verpflichten und könnte von diesem Versprechen auch nicht abrücken, wie verschiedene Bibelstellen zeigten. Wegen der Gottesebenbildlichkeit gelte dieselbe Vertragstreue auch für den Menschen.
Immanuel Kant dagegen hält den Grundsatz, dass rechtliche Versprechen zu erfüllen sein, für eine Sache der Vernunft. Diese Versprechensbindung sei für alle Menschen einleuchtend, ein kategorischer Imperativ, unbeweisbar und darüber hinaus ein Postulat der reinen Vernunft, also eine Annahme, unter der der Verstandsgebrauch erst sinnvoll wird.
Anders dagegen begründet Arthur Schopenhauer, warum Verträge gehalten werden müssen. Der Vertragsbruch stellt laut ihm eine Lüge dar, nämlich die listige und vollständige Verneinung des Willens des Vertragspartners.
Zuletzt führte Hingst noch das Erklärungsmodell von John Langshaw Austin an, der dem Vertrag durch den Akt des Sprechens Bindungswirkung zuschreibt.
Doch weder die Erklärungen durch die Topoi Natur, Vernunft, Moral noch Sprache können lückenlos und fehlerfrei herleiten, warum wir uns an Verträge halten sollten und es in der Regel auch tun. Dafür schlug Hingst zusätzlich drei Denkbewegungen vor, um die Lücken der anderen Modelle zu füllen, begonnen von einer anthropologischen Betrachtung über eine ontologische Begründung bis hin zu einem quasi-existentialistischen Schluss. Da die Nichtgeltung des Grundsatzes der Vertragstreue ultimativ zu einer Auflösung der menschlichen Gemeinschaft führen würde, entspricht die Vertragsbindung – vorausgesetzt man akzeptiert die Leibnitz´sche These, dass Sein besser ist als Nicht-Sein – dem Selbstverständnis des Menschen als selbstbejahendes Wesen. Nach diesen tiefgehenden philosophischen Betrachtungen fasste Hingst die Essenz der Vertragsbindung als Kernprinzip der Rechtswissenschaft mit folgendem Kinderreim nochmal zusammen: Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen.
Und nachdem den Studierenden, die in diesem Jahr die Anforderungen für das Philosophicum erfüllt hatten, ihre Zertifikate überreicht worden waren, warteten wie immer nach Veranstaltungen an der Bucerius Law School auch diesmal wieder Brezeln und Wein auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer – wie versprochen.