Am 5. Juni 2024 kamen Anna Engelke, Journalistin beim NDR und Host des sicherheitspolitischen NDR-Podcasts „Streitkräfte und Strategien“, Dr. Cornelius Adebahr, Adjunct Faculty Hertie School Berlin sowie selbstständiger Politikberater und Analyst, und Mark Fischer, Senior Project Manager im Programm Europas Zukunft der Bertelsmann Stiftung, in der Bucerius Law School zusammen, um die Frage „Europäische Sicherheitspolitik in Krisenzeiten: Mehr Verteidigung wagen?“ zu ergründen. Bennet Woyciniuk, Regionalleiter Junge Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) Regionalforum Hansestädte und Student an der Bucerius Law School des Jahrgangs 2021, moderierte das Expert:innengespräch.
Mehr Verteidigung wagen, gerne auch zusammen
Bennet Woyciniuk eröffnete mit der Frage, ob und auf welchen Wegen die EU mehr Verteidigung wagen kann. Anna Engelke bejaht diese Frage klar und deutlich. Mehr Verteidigung wagen, gerne auch zusammen, und meint damit die anderen europäischen Länder als Verbündete in dieser Sache. Sie betont, dass sich unsere regelbasierte Ordnung in Europa wehren können muss. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs seien die europäischen Ausgaben bereits gestiegen, es würden allerdings 240 Milliarden Investitionen in Sicherheit fehlen. Die immer wieder diskutierte Europäische Armee wird in ihren Augen nicht funktionieren. Fragen, wie zum Beispiel nach der Übernahme der Armeeführung, stünden dieser Lösung im Weg. Die Journalistin könnte sich intensivere Zusammenarbeit auf nationaler Ebene vorstellen, wie es in der Rüstungsindustrie bereits erfolgt. Sie kritisiert, dass beispielsweise die Materialstandards in der Ausrüstung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden sind. Eine besser abgestimmte und einheitliche Ausstattung ist eine Möglichkeit, unsere gemeinsame Verteidigung zu verbessern.
War denn alles falsch vorher?
Cornelius Adebahr stimmt seiner Vorrednerin zu und fragt provozierend nach: Heißt das gleichzeitig, dass alles vorher falsch gewesen ist? Nein, findet der Politikberater. Das Geld, das in der Vergangenheit für andere Zwecke als Verteidigung ausgegeben wurde, muss rückblickend nicht automatisch schlecht investiert worden sein. Vielmehr müsse man bedenken, dass sich die Umstände, unter denen die bisherigen Investitionen getätigt wurden, geändert haben. Beispielsweise hat Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf die Ukraine begonnen. Zur Wahrheit gehört in seinen Augen daher auch, dass ohne die russische Invasion viele nachfolgende Entscheidungen, wie die Erhöhung des Verteidigungshaushalts, mangels politischen Willens nicht erfolgt wären. Natürlich ist es leicht zu sagen, dass manche die Gefährlichkeit Russlands viel früher erkannt hätten, und dass man in Deutschland früher hätte handeln können. Dass der Verteidigungshaushalt bereits 2014 hochgefahren worden wäre, hält Adebahr allerdings für unrealistisch, da eben genau dieser politische Wille gefehlt hat. Generell sei es auch nur dann sinnvoll, den Verteidigungshaushalt künstlich hochzufahren, wenn dies wirklich nötig ist (Stichwort Friedensdividende).
Existentielles Wagnis nicht zu investieren
Mark Fischer dreht die Frage „Mehr Verteidigung wagen?“ um. Auch wenn er, wie Cornelius Adebahr, das Einfahren einer Friedensdividende unterstützt, ist für ihn das wahre Wagnis, jetzt nicht zu investieren. Fischer weist auf den Bewusstseinswandel seit 2022 hin. Hätte man Putin in den Jahren zuvor ernsthaft zugehört, hätte man dessen Pläne, militärische Gewalt einzusetzen, bereits voraussehen können. Der Experte fordert, endlich die Realität anzuerkennen, dass militärische Gewalt in der heutigen Zeit (wieder) ein politisches Instrument sei.
Auf die Frage, wie mehr Verteidigung aussehen könnte, hebt der Experte hervor, dass ein EU-Verteidigungskommissar in seinen Augen nicht der richtige Weg ist. Dafür gebe es die NATO. Die EU müsse ihre Industriepolitik besser gemeinsam gestalten. Das viele Geld, das bisher ausgegeben wurde, müsse zukünftig effektiver eingesetzt werden.
Europäische Erfolge
Trotz Kritik hat die EU bereits Einiges für die Ukraine getan. Adebahr führt an, dass zum einen Unterstützung aus dem eigenen europäischen Budget erfolgte. Zum anderen wurden Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine im Rahmen eines verkürzten Verfahrens in den Mitgliedstaaten aufgenommen und ihnen der Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtert. Nicht zu vergessen sind die zahlreichen Sanktionspakete gegen Russland, die von der EU beschlossen wurden. Weiter hat die EU das komplexe zugrunde liegende Problem im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erkannt und mitgewirkt, Koalitionen zu erreichen.
Zukünftige Aufgaben der EU sind laut Adebahr, den Wiederaufbau der Ukraine mitzugestalten sowie die Stabilisierung und mittelfristige Integration (in Jahrzehnten gesprochen) der Ukraine zu begleiten.
Adebahr rät der EU, in kritischen Situationen nicht ihre Grundsätze über Bord zu werfen, sondern diese in ihre Abwehrstrategie zu integrieren. Und gerade weil eine europäische Einigung in letzter Zeit schwieriger geworden ist (Stichwort Ungarn), hat es besonders große Wirksamkeit, wenn sich die Mitgliedstaaten einigen. Man müsse langfristige Ziele im Blick behalten, wie den europäischen Raum zu erweitern, um die europäische Sicherheit zu garantieren.
Auch Engelke bestätigt die Verdienste der EU, sieht aber vor allem in den bestehenden Verträgen der EU mit anderen Staaten über Munitionslieferungen Spielraum, mehr Munition als Unterstützung für die Ukraine zu sichern. Generell wünscht sie sich mehr Tempo von der EU.