Was bewegt den Osten?

Podiumsgespräch nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland am 16. Oktober 2024 organisiert vom Studium generale in Kooperation mit der ZEIT STIFTUNG BUCERIUS.

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35 Jahre nach dem Fall der Mauer stehen die Ostdeutschen noch immer vor vielen Herausforderungen, die aus Sicht des Westens längst überwunden scheinen. Niedrigere Löhne, niedrigere Renten und höhere Altersarmut prägen das Bild in den ostdeutschen Bundesländern. 

Im voll besetzten Helmut Schmidt Auditorium gingen der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Steffen Mau, der Ostbeauftragte der Bundesregierung Carsten Schneider, der krankheitsbedingt digital zugeschaltet war, und die Zweite Chefredakteurin des Südwestrundfunk (SWR) Marieke Reimann in einem Talk nach den Landtagswahlen der Frage nach: Was macht diese Ungleichheit mit den Menschen im Osten?

Im Mittelpunkt der Diskussion stand Steffen Maus Buch „Ungleich vereint", in dem er die These vertritt, dass der Osten auch 35 Jahre nach der Wiedervereinigung in vielen Bereichen anders ist als der Westen - nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch und kulturell. Mau betonte, dass der Osten eine eigenständige Identität bewahrt habe, die durch die spezifischen Erfahrungen der DDR und der Wendejahre geprägt sei. 

Viele Ostdeutsche hätten damals große Umbrüche und Verlusterfahrungen bewältigt, die im Westen oft wenig Anerkennung gefunden hätten. Diese Enttäuschungen führten dazu, so Mau, dass sich viele Menschen abgehängt fühlten - ein Gefühl, das sich auch in den Wahlergebnissen niederschlage. Besonders deutlich werde dies am Erstarken der AfD, die in Ostdeutschland deutlich stärker sei als im Westen.

Als Ursachen für die politische Entwicklung nannten Carsten Schneider und Steffen Mau neben der wirtschaftlichen Benachteiligung auch den demografischen Wandel in der Region. Nach der Wende seien viele junge und gut ausgebildete Menschen, insbesondere Frauen, in den Westen abgewandert. 

Dies habe zu einer „Maskulinisierung“ in Teilen der ostdeutschen Gesellschaft geführt, die sich auch in einem stärkeren Rechtsruck bemerkbar mache. Zudem sei das Vertrauen und die Bindung an die etablierten Parteien gering, was sich in einer geringen Parteimitgliedschaft und einer hohen Volatilität der Wählerstimmen ausdrücke. Die AfD habe in manchen Regionen jedoch eine stabile Basis von rund 15 Prozent.

Mau sprach sich dafür aus, alternative Formen der demokratischen Partizipation zu testen, um den Menschen mehr politische Teilhabe zu ermöglichen. Bürgerräte könnten helfen, das Gefühl der Selbstwirksamkeit zu fördern und Populismus einzudämmen. Mau sieht den Osten als „Labor für neue demokratische Experimente“, da die traditionelle Parteienlandschaft hier nur schwach verankert sei.

Neben den demographischen Unterschieden betonten Mau und Schneider, dass das Stadt-Land-Gefälle mindestens so groß sei wie das Ost-West-Gefälle. Während der Westen wachse, schrumpfe der Osten seit Jahrzehnten. Gerade diese ländlichen Räume stünden vor großen Herausforderungen in Bezug auf Infrastruktur, medizinische Versorgung etc. Mit dem damit verbundenen Gefühl des Abgehängtseins wachse die Empfänglichkeit für (rechts)populistische Strömungen. 

Schneider betonte, dass die AfD nicht durch Verbote bekämpft werden könne, sondern durch eine stärkere Einbindung der Menschen. Er plädierte dafür, weniger über die AfD zu reden und sie nicht in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen. Stattdessen müsse die „stille Mitte“ der Gesellschaft mehr Gehör und Anerkennung für ihre Lebensleistung erhalten, und sich selbstbewusst gegen die lautstarken Proteste von rechts zu positionieren. Er vermisse in der Debatte einen Blick darauf, wie gut sich der Osten entwickelt, um diese positive Entwicklung stärker ins Bewusstsein der Menschen zu rücken.

Mau und Schneider waren sich einig, dass es auch in Zukunft Brüche in der ostdeutschen Gesellschaft geben werde. Diese Unterschiede dürften nicht ignoriert, sondern müssten offen thematisiert werden. Mau warnte davor, den Osten einfach als rückständig abzutun und von einer Angleichung an den Westen auszugehen. Vielmehr könnten Entwicklungen im Osten, wie der zunehmende Rechtsruck, auch im Westen Schule machen. Umso wichtiger sei es, neue Formen der politischen Beteiligung zu erproben, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und die Demokratie zu festigen.

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