Niemand soll auf Rechte verzichten müssen, weil er oder sie mittellos ist. Das ist der Grundsatz der studentischen Rechtsberatung an Universitäten und Hochschulen. Die Mitarbeit in einer Law Clinic ist für angehende Jurist*innen zudem die beste Praxis: Sie lernen für den Job und fürs Leben. Seit acht Jahren gibt es die Law Clinic an der Bucerius Law School, die auch während des Lockdowns nahtlos weiterberaten hat.
Es flackert kurz am Rechner. Dann öffnet sich das Fenster und alle sind in Bild und Ton anwesend. Ein typisches Szenario für einen Video-Call über die Konferenzplattform Zoom. Jede der beteiligten Personen hat sich an einem anderen Ort einwählt. Bettina Bachinger, Fachanwältin für Familienrecht, sitzt an ihrem Arbeitsplatz bei den Hamburger „elblaw Rechtsanwälten“, die Jurastudentinnen Stella Westenhoff und Anne Meier melden sich aus ihren Homeoffices. Sie alle sind ehrenamtlich an der Law Clinic der Bucerius Law School tätig: Dabei berät ein*e Anwält*in gemeinsam mit zwei Studierenden, Legal Adviser genannt, kostenfrei Menschen, die sich professionellen Rechtsrat sonst nicht leisten könnten. Bevor Corona das Leben bestimmte, fanden die Gespräche direkt an der Hamburger Stiftungshochschule statt, seitdem online.
Einblicke in die anwaltliche Berufspraxis
„Ich würde Sie bitten, dass Sie die Fragen stellen“, wendet sich Anwältin Bachinger nun an die beiden Studentinnen, die sie heute unterstützen. „Wenn etwas ist, greife ich ein.“ Der anstehende Fall wird kurz durchgesprochen, die Vorgehensweise auch. Wenige Minuten später holt Jurastudentin Anne Meier die Ratsuchende, die sich über ihr Handy zuschaltet, aus dem virtuellen Wartebereich in den Zoom-Raum so wie früher ins reale Zimmer. Bettina Bachinger stellt sich vor und gibt die Gesprächsführung an ihre studentischen Co-Beraterinnen ab. Es geht heute um Unterhalts- und Abstammungsrecht. Die ratsuchende Frau mit Migrationshintergrund ist schwanger, hat keinen Aufenthaltstitel, darf aber bis einen Monat nach der Geburt in Hamburg bleiben. Der Vater erkennt das Kind nicht an.
„Unsere Aufgabe besteht darin, dass wir zwischen Ratsuchenden, Anwält*innen und Dolmetscher*innen vermitteln. [...] Und wenn Anwält*innen einen Sachverhalt komplex erklären, fassen wir ihn verständlich zusammen.“
Stella Westenhoff, Legal Adviser
Familienrecht ist eines von fünf Rechtsgebieten, in denen die Law Clinic berät. Aufenthalts-, Arbeits-, Sozial- und Mietrecht kommen hinzu. Die Law-Clinic-Beratungen ermöglichen Studierenden, das erworbene juristische Wissen an echten Fällen zu erproben und ihre Kommunikationsfähigkeit zu erweitern. Das kann Bucerius Law School-Studentin Stella Westenhoff nur bestätigen: „Unsere Aufgabe besteht darin, dass wir zwischen Ratsuchenden, Anwält*innen und Dolmetscher*innen vermitteln.“ Über 50 Prozent der Beratungen müssen übersetzt werden. Für viele Menschen sei es eine fremde Situation, so Westenhoff: „Wir sollen sie auflockern. Selbst wenn wir nur ein Glas Wasser bringen. Und wenn Anwält*innen einen Sachverhalt komplex erklären, fassen wir ihn verständlich zusammen.“
Erwerb von zusätzlichen Kompetenzen
Ohne diese Leidenschaft ginge es auch nicht. Immerhin sind insgesamt 250 bis 300 Einzelberatungen im Jahr an der Law Clinic angesetzt. Jurastudentin Stella Westenhoff übernimmt in der vorlesungsfreien Zeit ein bis drei Beratungstermine im Monat. „Pro Beratungsblock sind es drei Einzeltermine“, erklärt sie. „Drei Stunden dauert ein Block im Schnitt. Ein bis zwei Stunden arbeitet man sich vorab ein.“ Ihr Antrieb? „Ich habe vor dem Studium einen Freiwilligendienst in Lateinamerika gemacht, wo auch eine Rechtsberatung angeboten wurde. Das Konzept fand ich schön und mein Interesse war geweckt.“ Nachdem sie 2018 an der Bucerius Law School ihr Studium begonnen hatte, bewarb sie sich 2019 an der Law Clinic.
Um die 70 Legal Adviser, die sich in verschiedenen Phasen ihres Jurastudiums befinden, sind an der Hamburger Stiftungshochschule im Einsatz, so Bianca Sukrow: „Hinzu kommen 15 bis 20 Personen, die im Orga-Team arbeiten und weitere im Dolmetscherpool. Unsere Studierenden engagieren sich komplett ehrenamtlich.“ Mehr als 100 Studierende seien es insgesamt, meint die Leiterin und jährlich würden weitere Legal Adviser ausgebildet werden: „Es gibt zwei wesentliche Elemente der Ausbildung. Das eine ist ein juristischer Grundlagenkurs, der Familien-, Sozial- und Aufenthaltsrecht beinhaltet. Sozial- und Migrationsrecht ist nicht examensrelevant und wird bei uns an der Law School nicht gelehrt, deshalb bieten wir das selbst an. Der Kurs wird in Kooperation mit dem Studierendensekretariat durchgeführt und ist das einzige Element im Rahmen der Law-Clinic-Arbeit, das kreditiert wird.“ Auch Law-Clinic-Anwält*innen wie Bettina Bachinger sind in die Ausbildung involviert. Der zweite Teil sei ein Kommunikationstraining, erklärt Sukrow weiter: „Mit Gesprächsführungstechniken und Fallsimulationen.“ Der Kurs endet in einer mündlichen Prüfung, die die Beratungssituationen abbildet.
Persönliche Beratung weiterhin zwingend erforderlich
Das Law Clinic-Team fand neue Abläufe und setzte seinen Plan in die Tat um. Anwält*innen sowie Sozialberater*innen wurden per Mail über die digitale Wende informiert. „Innerhalb einer Stunde hatten wir Antworten von zehn Anwält*innen, die sofort zustimmten. Mittlerweile beraten alle über Zoom“, sagt Hannah Franz noch heute erfreut über so viel Zuspruch. „Anfangs haben wir nur Notberatungen gemacht. Als die Sozialberatungsstellen wieder öffneten, sind wir in den Normalbetrieb zurück. Mittlerweile bieten wir fast genauso viele Zoom-Beratungen an wie vorher Präsenzberatungen.“
Allerdings wünschen sich die Sozialberatungsstellen letztere so schnell wie möglich wieder. Zur Furcht, eine*n Anwält*in aufzusuchen, kommt bei manchen Ratsuchenden noch die Furcht vor der Digitalität hinzu. Auch Familien-Rechtsanwältin Bettina Bachinger gesteht, dass sie die persönliche Beratung weiterhin als zwingend erforderlich sieht: „Gerade bei Erstgesprächen ist es besser, wenn man sich gegenübersitzt. Man schafft dadurch eine Vertrauensbasis und sieht sich ganz anders als über einen Bildschirm.“ Schwierigkeit sei auch, dass den Sprachmittler*innen, die oft ebenfalls ehrenamtlich tätig sind, die Routine mit virtuellen Beratungen fehle. Das Team der Law Clinic kenne die Komplikationen, möchte früher oder später zur Präsenzberatung zurückkehren, bestätigt Hannah Franz.
Berufserfahrung durch die Tätigkeit an der Law Clinic
Bis es soweit ist, laufen die Beratungen ausschließlich virtuell weiter. „Zum Glück stellen die Sozialberater*innen in unserem Portal Sachverhaltsinformationen mit Dokumenten ein“, sagt Kommilitonin Stella Westenhoff. „So haben wir bei Zoom-Beratungen die Dokumente schnell vor uns.“ Was derzeit fehle, sei das Glas Wasser oder der Keks, den sie sonst reichen. Das Zwischen-den-Zeilen-Lesen gelingt dennoch auch online häufig recht gut, wie die heutige Zoom-Beratung zeigt. Die Ratsuchende vertraut sich an und die Legal Adviser können mit Unterstützung der Anwältin weiterhelfen. Stella Westenhoff ist zufrieden und um eine weitere Erfahrung reicher: „Man lernt durch die Tätigkeit an der Law Clinic zuzuhören und geduldiger zu sein, achtet mehr auf Mimik und Gestik. Und dass es in der Praxis darauf ankommt, Klienten klare Antworten zu geben.“ Fachlich bekäme sie Einblicke in Bereiche, die das Grundstudium nicht abdecke: „Beispielsweise ins Sozialrecht und wie man den Hartz-IV-Satz ausrechnet.“
„Studierende, die in einer Law Clinic beraten haben, besitzen besondere Fähigkeiten im Umgang mit Menschen.“
Bianca Sukrow, Leiterin der Bucerius Law Clinic
Die Law-Clinic-Tätigkeit sei tatsächlich sehr praxisrelevant, so Bianca Sukrow: „Aus manchen Kanzleien kommt das Feedback, dass Studierende, die in einer Law Clinic beraten haben, besondere Fähigkeiten haben im Umgang mit Menschen. Jemand, die oder der schon im Studium Verantwortung für Mandant*innen übernommen hat, hat Berufserfahrung.“ Und tut Gutes, für sich und andere. Es braucht nur Engagierte, die selbst in Zeiten von Corona nicht den Mut verlieren, sondern mit Rat und Tat anderen zur Seite stehen – ob physisch oder digital.