Im Rahmen der Akademischen Feier des Jahrgangs 2023 am 29. September 2023 fand die Amtsübergabe von Prof. Katharina Boele-Woelki und Prof. Michael Grünberger statt. Im Doppelinterview sprechen beide über die juristische Ausbildung in Deutschland, inwieweit sich die Ansprüche der Studierenden geändert haben und welche Herausforderungen auf die Hochschule in den kommenden Jahren zukommen.
Welche Fragen muss die Rechtswissenschaft heute und in naher Zukunft stellen?
Katharina Boele-Woelki:
Wir sind bei der Gestaltung der juristischen Ausbildung nicht völlig autonom, dennoch gibt es Raum für Innovation und Profilbildung wie etwa die 2019 gegründete Hochschulgruppe Klima und Nachhaltigkeit oder das forschungsorientierte Center for Interdisciplinary Research on Energy, Climate and Sustainability (CECS). Ganz aktuell müssen wir uns jetzt mit den Möglichkeiten und Grenzen der KI für unsere Prüfungsformate beschäftigen.
Michael Grünberger:
Vom Recht wird heute erwartet, alle möglichen Transformationsprozesse zu begleiten, aktiv mitzugestalten und auch abzufedern. Das Recht wird immer mehr – ob wir es wollen oder nicht – zum Instrument, um gesellschaftlichen Wandel zu gestalten. Damit wird es kontroverser. Alles wird politischer und unübersichtlicher. Da muss die Rechtswissenschaft ran. Sie muss Instrumente weiterentwickeln, um das vorhandene Wissen über seine Umwelt besser verarbeiten zu können. Und wir bilden die Gestaltenden von morgen aus!
Wie haben sich die Werte und Ansprüche der Studierenden mit den Jahren verändert?
Katharina Boele-Woelki:
Unsere neuen Lehrformate (digitales Fallbuch, digitales Skript, Video und Vorlesungsaufzeichnung) werden neben Vorlesungen und Kleingruppen intensiv genutzt. Sie ermöglichen
eine Individualisierung des Studiums. Dennoch brauchen wir auch das (Streit-)Gespräch, das – so erwarte ich – in Zukunft in kleineren Gruppen stattfinden wird. Mit der überschaubaren Größe unserer Hochschule, der finanziellen Absicherung durch die ZEIT-Stiftung und dem gemeinsamen Willen, den Studierenden eine exzellente Ausbildung zu bieten, werden wir diese Herausforderung meistern.
Michael Grünberger:
Während vor 10, 15 Jahren ein Job in der Wirtschaft (Kanzlei oder Unternehmen) noch von vielen als erstrebenswertes Ziel angegeben wurde, beschäftigen sich heute mehr mit Themen und Zugängen, wo sie einen Beitrag für gesamtgesellschaftliche Belange leisten können. Und sie wollen mehr Zeit für Familie haben.
Es genügt also nicht mehr zu sagen, dass man als Hochschule „für Wirtschaftsrecht“ steht. Wir müssen wieder mehr Gesellschaftsrecht betreiben. Das ist ein Zugang, der die vielfältigen sozialen, technologischen, ökonomischen, aber auch ökologischen Rahmenbedingungen der Gesellschaft, in der wir leben, reflektiert und gestaltet.
Wie bleibt eine private Hochschule im Wissenschaftsbetrieb für Forschende attraktiv?
Michael Grünberger:
Vielleicht sollten wir als privat organisierte Hochschule uns stärker auf die Freiheit besinnen, bewusst anders zu sein. Wir sollten weniger die Strukturen und Abläufe staatlicher Hochschulen imitieren, sondern ganz bewusst neue Wege gehen, um wissenschaftsadäquate Arbeitsbedingungen zu schaffen. Forschende – die idealerweise immer zugleich auch Lehrende sind – sollten sich auf drei Dinge fokussieren können:
Erstens: Welches Problem interessiert mich und wie und mit wem möchte ich darauf Antworten finden? Zweitens: Wie kann ich mein Wissen und meine Fragen am besten an Studierende vermitteln, sodass sie in der Lage sein werden, die Herausforderungen von morgen zu sehen und zu bewältigen? Drittens: Wie kann ich meine Forschung so vermitteln, sodass sie in der Fachcommunity und in der Öffentlichkeit rezipiert wird?
Katharina Boele-Woelki:
Als staatlich anerkannte rechtswissenschaftliche Hochschule mit Promotions- und Habilitationsrecht müssen wir Freiräume für die Forschung bieten.
Forschungsfreitrimester, Forschungsfreizeiten oder finanzielle Anreize für interdisziplinäre Forschung, für die Unterstützung bei Drittmittelprojekten und für Auslandsaufenthalte zählen dazu. Der wissenschaftliche Nachwuchs muss auch gefördert werden, etwa mit Stipendien für Forschungsaufenthalte und Tagungsteilnahmen.
Welche Herausforderungen kommen auf die Hochschule in den nächsten Jahren zu?
Katharina Boele-Woelki:
Die Bucerius Law School steht vor der ständigen Herausforderung, exzellente Lehre auf hohem Niveau anzubieten und gleichzeitig ihre Forschung in den nationalen und internationalen
Diskurs einzubringen. Interdisziplinäre rechtswissenschaftliche Forschung wird dabei immer mehr zum Standard.
Wir müssen nicht nur mehr interdisziplinäre, sondern vor allem interdisziplinäre Forschungsprojekte fördern. Dafür können wir uns die besten Wissenschaftler*innen aus anderen Forschungsbereichen aussuchen. Wir müssen also den Campus verlassen oder zu uns einladen, um Kooperationen zu ermöglichen.
Michael Grünberger:
Klimawandel und Digitalisierung und die dadurch ausgelösten Transformationsprozesse sind die Mammutaufgabe unserer Zeit. Vor allem aber müssen wir mit unseren Angeboten dazu beitragen, Persönlichkeiten zu bilden – und ich spreche bewusst von „bilden“ und nicht nur von „ausbilden“ –, die das Ethos und das Können haben, diese Prozesse in der Gesellschaft aktiv voranzutreiben.
Was bedeutet es heute, Talente zu entwickeln?
Katharina Boele-Woelki:
Das ist die schönste Aufgabe einer Professorin oder eines Professors! Talente zu entdecken und zu fördern. Das wird bei der Betreuung einer Dissertation deutlich:
regelmäßige bilaterale Gespräche führen (bei mir einmal pro Woche), Vernetzungsmöglichkeiten aufzeigen, den Spiegel vorhalten, kritische Fragen stellen, manchmal weiß man selbst die Antwort nicht, offen und unvoreingenommen zuhören, den Zeitplan und die sich ständig weiterentwickelnde Gliederung im Auge behalten, sich um das seelische Wohl der Doktorand*innen kümmern, sich über Erfolge freuen und bei Tiefpunkten gemeinsam einen Ausweg finden.
Michael Grünberger:
Die Bildungssoziologie kennt den Begriff des „signifikant Anderen“. Das sind Personen, denen in bestimmten sozialen Kontexten ein besonderes Gewicht zukommt, wenn es darum geht, das eigene Selbstbild zu formen. Wir Hochschullehrer*innen zählen ganz besonders dazu, dafür müssen wir uns noch stärker sensibilisieren.
Jura ist eine soziostrukturell besonders exklusive Disziplin mit einem erstaunlich geringen Anteil an Aufsteiger*innen aus niedrigen sozialen Herkunftsgruppen und aus Migrationshintergründen. Hier müssen wir – die deutsche Rechtswissenschaft insgesamt– besser werden.
Was bedeutet für Sie Exzellenz?
Katharina Boele-Woelki:
Beharrlichkeit, Innovation und Teamgeist führen zu Spitzenleistungen, die übrigens nicht von uns, sondern von anderen als solche anerkannt werden müssen.
Michael Grünberger:
Im Wissenschaftssystem bedeutet es, mit geeigneten und reflektierten Methoden eigenständige Fragestellungen zu formulieren und sie ergebnisoffen, aber mit Leidenschaft zu verfolgen – und in der Folge davon unseren Blick auf die Welt zu verändern.
Wie würden Sie den Law School-Spirit in Worte fassen?
Katharina Boele-Woelki:
Gemeinschaft, Mut und Exzellenz: Das sind unsere Kernwerte. Es ist wichtig, dass die Ziele der Hochschule und auch die Ziele jedes einzelnen Mitglieds gemeinsam erreicht werden. Das bringt uns auf eine höhere (Glücks-)Ebene und macht uns leistungsfähiger. Bucerius-Spirit ist auch, wenn kurz nach Ausbruch des Angriffskrieges gegen die Ukraine ein großes Benefizkonzert von den Studierenden organisiert und gestaltet wird. Da wird einem warm ums Herz.
Welche Erfahrungen haben Ihre Zeit an der Bucerius Law School besonders gemacht?
Katharina Boele-Woelki:
Meine Zeit an der Bucerius Law School war zu einem großen Teil mit der Vorbereitung und Durchführung von zwei institutionellen Akkreditierungen durch den Wissenschaftsrat ausgefüllt.
Dies war in jeder Hinsicht eine einmalige Erfahrung: die fruchtbare und unterstützende Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen, der Geschäftsführung und der Verwaltung sowie den Studierenden und wissenschaftlich Mitarbeitenden. Gerade bei den Ortsbesuchen habe ich gespürt, dass sich alle mit Herz und Seele für unsere Hochschule engagieren.
Wenn ich noch einmal anfangen würde, würde ich wieder viele Gespräche mit allen führen, unvoreingenommen und zunächst ohne Agenda. Diese entwickelt sich nach der Bestandsaufnahme. Es ist eine spannende Zeit, in der sich Neues zeigt, aber auch Bekanntes bestätigt wird.
Auf jeden Fall hat mir der Austausch als damals noch außerhalb des deutschen Wissenschaftssystems Stehende einen guten Einblick in den Organismus Bucerius Law School gegeben. Immer wieder wurde ich nach meinen Visionen gefragt. Im Rückblick stelle ich fest, dass alle Veränderungen seit meinem Amtsantritt gemeinsam erkämpft und gemeistert wurden.
Ich habe mich auf die Rolle der Initiatorin, Moderatorin, Networkerin und Enablerin beschränkt.
Jahresheft zur Forschung
Dieser Artikel stammt aus dem aktuellen Jahresheft zur Forschung 2022 | 2023. Das komplette Heft ist ab sofort digital verfügbar.
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Prof. Grünberger, mit welchen Schwerpunkten starten Sie Ihre Amtszeit?
Michael Grünberger:
Ich bin mit einer Perspektive für die Law School angetreten, die um drei zentrale, sich überlappende Querschnittsbegriffe kreist: Nachhaltigkeit – Responsivität – Diversität. Nachhaltigkeit ist nicht nur ein ökologisches Konzept, sondern Teil des Selbstverständnisses einer modernen Hochschule.
Mit Responsivität bezeichne ich den Vorgang, wie das Recht auf die gravierenden Umwälzungen unserer Zeit adäquat reagieren kann. Diversität bedeutet für mich, dass die Law School Vielfalt und Pluralismus als Chance und als institutionelle Herausforderung auf mehreren Ebenen begreift. Ich würde mich freuen, wenn man mich als aufmerksamen Zuhörer, kritischen Fragensteller, lernenden und diskutierenden Gestalter erfahren wird.
Was wünschen Sie sich gegenseitig für die nähere Zukunft?
Michael Grünberger:
Ich wünsche Katharina, dass sie die neu gewonnene Freiheit mit den Dingen ausfüllen kann, die in den letzten acht Jahren vielleicht zu kurz gekommen sind. Und ich wünsche uns, dass Katharina der Law School als engagierte Lehrende und als wohlwollend-kritische Begleiterin verbunden bleibt.
Katharina Boele-Woelki:
Freude an der Vielfältigkeit des Amtes, Anerkennung in der Hochschulgemeinde und ein wenig Zeit für eigene Lehre und Forschung.
Verabschiedung von Prof. Boele-Woelki
27. September 2023, Moot Court, Bucerius Law School