Gleichheitsgrundsatz in Tarifverträgen
In einer aktuellen Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht erstmals klargestellt, dass Tarifparteien an den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes gebunden sind. Dieser Grundsatz besagt, dass alle Arbeitnehmer gleich behandelt werden müssen, es sei denn, es gibt sachliche Gründe für eine Ungleichbehandlung, so Messner.
Im Zentrum des Verfahrens stand die Frage, ob sich die unterschiedlich hohen Nachtarbeitszuschläge in Tarifverträgen rechtfertigen lassen. Die Regelungen sahen vor, dass Nachtschichtarbeitnehmer, die regelmäßig in der Nacht arbeiten, einen Zuschlag von 25% erhalten, während diejenigen, die nur unregelmäßig in der Nachtschicht einspringen, mit einem Zuschlag von 50% bedacht werden.
Messner, die an den Verfassungsbeschwerden mitgearbeitet hatte, erklärt: „Das Bundesarbeitsgericht sah keinen sachlichen Grund für die Differenzierung der Zuschläge und entschied, dass alle Arbeitnehmer in der Nacht einen Zuschlag von 50% erhalten sollten.“
Verfassungsbeschwerde und ihre Hürden
Eine Verfassungsbeschwerde kann eingereicht werden, wenn jemand der Meinung ist, dass ein staatliches Urteil seine Grundrechte verletzt. Im vorliegenden Fall beriefen sich die betroffenen Arbeitgeber auf eine Verletzung ihrer durch Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz geschützten Koalitionsfreiheit. Die Arbeitgeber hatten sich gegen die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts gewandt, das sie zur Zahlung des höheren Nachtzuschlags verurteilte.
Messner beschreibt den Prozess: „Die Hürden für eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde sind hoch, und der Ablauf ist sehr kleinteilig. Besonders interessant ist, dass das Verfahren bis zum Sommer 2024 noch komplett analog abgelaufen ist – alle Anlagen müssen in Papierform eingereicht werden.“
Im vorliegenden Fall hat Prof. Dr. Jacobs mit Unterstützung von Prof. Dr. Malorny und Frau Messner rund 70 Verfassungsbeschwerden eingereicht, die sich mit verschiedenen Tarifverträgen und Urteilen beschäftigten. Messner weiter: „Zusammengekommen sind mehr als 35.000 Seiten und 150 Kilogramm Papier, die wir in Karlsruhe abgegeben haben.“
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Karlsruhe stärkt die Tarifautonomie
Das Bundesverfassungsgericht prüfte drei zentrale Fragen: Gilt der allgemeine Gleichheitsgrundsatz für Tarifverträge? Wann ist eine Ungleichbehandlung gerechtfertigt? Schließlich ist eine „Anpassung nach oben“ zulässig, wenn eine Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt werden kann? Das Gericht beantwortete alle drei Fragen, auch wenn es in diesem konkreten Fall nicht zwingend erforderlich gewesen wäre.
„Es war eine überraschende Entscheidung, dass das Bundesverfassungsgericht erstmals bestätigte, dass Tarifparteien an den Gleichheitssatz gebunden sind“, so Messner. „Diese Entscheidung ist meines Erachtens jedoch nicht schlüssig, da Tarifparteien keine staatlichen Institutionen sind. Der Gleichheitssatz hat im Privatverhältnis grundsätzlich nichts zu suchen.“
Korrekturkompetenz der Tarifparteien
Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die Tarifparteien eine „primäre Korrekturkompetenz“ haben. Das bedeutet, dass sie selbst dafür verantwortlich sind, Tarifregelungen zu korrigieren, falls diese ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen enthalten, erklärt Messner.
Das Gericht stellte klar, dass bei einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung der Nachtarbeitszuschläge keine Anpassung nach oben durch das Gericht vorgenommen werden darf. „Das Bundesverfassungsgericht betonte, dass die Gerichte den Tarifparteien zunächst die Chance geben müssen, den Konflikt selbst zu lösen. Nur wenn das nicht geschieht, können weitere rechtliche Schritte folgen“, erläutert Messner.
Folgen der Entscheidung für die Praxis
Das Urteil stärkt die Tarifautonomie und schützt den Kompromisscharakter von Tarifverträgen. Die Tarifparteien können weiterhin unterschiedliche Zuschläge festlegen, solange sie sachlich begründbar sind. „Es gibt jedoch noch viele offene Fragen, insbesondere darüber, wie die Tarifparteien den Gleichheitsverstoß im konkreten Fall beseitigen sollen“, sagt Messner.
Die Debatte über die konkrete Rechtsfolge wird noch weitergeführt. Es ist nicht klar, wie die Korrekturkompetenz prozessual umgesetzt werden kann, oder was Arbeitsgerichte tun können, wenn die Tarifparteien die Chance zur Korrektur nicht nutzen.
Messner fügt hinzu: „Das Urteil hat nicht nur Auswirkungen auf die Nachtarbeitszuschläge, sondern könnte auch weitreichendere Folgen für Tarifverträge und die Rechtsprechung zu Mehrarbeitszuschlägen haben. Wir müssen abwarten, wie der Europäische Gerichtshof sich hierzu äußern wird, insbesondere in Bezug auf das Antidiskriminierungsrecht.“