„Wir brauchen schärfere Schwerter“

Justizsenatorin Anna Gallina und Präsident Michael Grünberger über die Resilienz des Rechtsstaats und das Verhältnis von Recht und Politik.

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Am Mittwoch, den 2. Juli 2025, hatte die Bucerius Law School zur zweiten Veranstaltung der Reihe „Bucerius Campus-Dialoge“ geladen. Organisiert wird sie vom Studium generale. Hamburgs Justizsenatorin Anna Gallina und der Präsident der Bucerius Law School, Prof. Dr. Michael Grünberger, LL.M. (NYU), diskutierten über zentrale Herausforderungen im Spannungsfeld von Recht, Demokratie und gesellschaftlichem Wandel.

 

Die Justiz muss aktiv um gute Leute werben

Zu Beginn gingen Gallina und Grünberger der Frage nach, ob und wie sich die juristische Ausbildung verändern müsse. Grünberger reflektierte über die Rolle des Staatsexamens: Einerseits sei es ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung mit vielen Vorteilen. Dazu gehörten die Vergleichbarkeit der Abschlüsse, gute Aufstiegschancen sowie die Tatsache, dass der Hochschulstandort im Gegensatz zu anderen Ländern kaum eine Rolle spiele. Gleichzeitig gäbe es die Herausforderung sinkender Studierendenzahlen – und in der Folge weniger Absolvent:innen. Auch sei die Ausbildung mit durchschnittlich acht bis neun Jahren relativ lang. Zusätzlich drohe eine Pensionierungswelle in der Justiz. Das führte Grünberger zu der Frage: Wie können wir das Angebot für Volljurist:innen attraktiver machen?

Für Justizsenatorin Gallina ist das eine Gemeinschaftsaufgabe von Landesjustizverwaltungen, Hochschulen und Wissenschaftsbehörden. Es gehe dabei um die Attraktivität des Berufsbildes, um den Zugang zum Studium und um eine modernere Didaktik. Viele seien von dem Studium abgeschreckt, denn Jura gelte als verstaubt, textlastig und viel zu schwer. Hier bräuchte es eine andere Kommunikation: Jura sei zwar anspruchsvoll, gleichzeitig biete es jedoch viele Möglichkeiten. Auf beruflicher Seite müssten die Karriereperspektiven verbessert werden. 

Dazu gehöre auch die angemessene Besoldung von erfahrenen Richter:innen und Staatsanwält:innen. Derzeit gebe es beim Gehalt kaum noch angemessene Aufstiegschancen. Dies müsse sich ändern. Denn, so Gallina, die Justiz hätte es lange für selbstverständlich gehalten, „dass die richtigen Leute schon den Weg zu uns finden. Und das müssen wir ablegen. […] [Wir] müssen jetzt - genau wie alle anderen Bereiche - auch aktiv darum werben und uns bemühen.“

Eine Möglichkeit, das Studium selbst attraktiver zu gestalten, sei der bei der Bucerius Law School bereits von Anfang an integrierte Bachelorabschluss, so Grünberger. Dieser ermögliche Jura-Studierenden bereits frühzeitig einen anerkannten Abschluss. Gallina: „Und bei aller Wertschätzung für den Volljuristen gibt es auch viele Bereiche, die davon profitieren, wenn Menschen eine juristische Expertise haben, die alternativ zu der des Volljuristen oder der Volljuristin ist.“ Grünberger wies darauf hin, dass der erste Abschluss darüber hinaus wertvoll für die Studierenden sei, weil: „der [Bachelor] auch Selbstvertrauen und Mut gibt und auch eine Option ist, etwas anderes zu machen.“

Leben wir noch in einer regelbasierten Zeit?

Im weiteren Verlauf des Gesprächs ging es um die Resilienz von Institutionen und um die Verantwortung jeder einzelnen Person, die in einem juristischen Beruf tätig ist. Präsident Grünberger warf die Frage auf, ob Jurist:innen bei der Interpretation von Gesetzen auch „wertebewusst“ entscheiden sollten und wenn ja, welche Werte dies wären. Die Justizsenatorin wies darauf hin, dass die Sinnfrage des eigenen Tuns immer im Mittelpunkt stehe und dass Jurist:innen sich darüber bewusst sein müssten, „dass tatsächlich jeder Einzelne eine Verantwortung trägt“. Das sei wichtig für das eigene Wirken. Als Wertegrundlage sehe sie die Grundrechte im Grundgesetz. Die Senatorin empfinde die juristische Arbeit als sinnstiftend, denn sie sorge dafür, „dass wir weiterhin in einer Gesellschaft leben können, in der das Recht gilt und nicht das Recht des Stärkeren oder des Lauteren“.

Vor dem Hintergrund eines aktuellen Falls, bei dem die Zurückweisung von Asylsuchenden bei Grenzkontrollen auf deutschem Gebiet vom Berliner Verwaltungsgericht für rechtswidrig erklärt wurde und in der Folge die Richter:innen sowie deren Familien in den sozialen Medien persönlich angegriffen worden sind – stellte Grünberger die Frage, wie Institutionen geschützt und resilienter werden könnten. 

Für die Justizsenatorin ist klar: wir leben in einer polarisierten Zeit. In einer Zeit, in der die wichtige Frage verhandelt werde: Leben wir noch in einer regelbasierten Zeit oder nicht? Sie lade vor diesem Hintergrund alle Menschen dazu ein, in die juristischen Berufe zu gehen, um dort selbstwirksam zu sein. Gallina: „Das ist eine ganz hohe Selbstwirksamkeit, die man hat, bei allem Widerstand, den man erfährt und für den muss man gute Verbündete haben.“

Die Strategie der demokratischen Kräfte

In einem gesellschaftlichen Umfeld, in dem populistische Angriffe stärker und sichtbarer werden, sei zudem ein wichtiger Punkt, Gerichtsverhandlungen und -entscheidungen verständlicher zu kommunizieren. So könnten Bürger:innen Geschehnisse besser einordnen. Es sei laut Gallina die Aufgabe von Justiz, Medien und Politik „für mehr Einordnungskompetenz in der Gesellschaft zu sorgen, für mehr Differenzierung und für echte Lösungen in der Sache.“

Präsident Grünberger machte durch ein weiteres Beispiel auf eine Entwicklung aufmerksam, die deutlich für ein verändertes gesellschaftliches Klima spreche und die Justiz nachhaltig verändere. Nämlich die Tatsache, dass mehr und mehr Bewerbende in Einstellungsprozessen in der Justiz in Ostdeutschland offen ihre AfD-Mitgliedschaft angeben würden. Vor dem Hintergrund des personellen Notstands steckten die Institutionen hier in einer Zwickmühle – lehnen sie diese ab, weil sie einer verfassungsfeindlichen, aber derzeit nicht verbotenen Partei angehören oder stellen sie solche Menschen aus Personalnot ein, mit der Gefahr, dass sich diese vernetzen und als Gruppe stärker werden? 

Nach Justizsenatorin Gallina hätten die Extremisten die klare Strategie, in bestimmte Bereiche wie die Justiz vorzudringen. Deshalb müssten auch die demokratischen Kräfte eine klare Strategie haben, um dagegen vorzugehen. Ein Beispiel sei die Neuauflage des Pakts für den Rechtsstaat, für den sich die Justizminister:innen auf ihrer Konferenz im Juni ausgesprochen hatten, um die Justiz modern und zukunftsfest aufzustellen. Gemeinsam mit dem Bund müsse für eine verbesserte Digitalisierung, beschleunigte Verfahren und eine nachhaltige personelle Stärkung in der Justiz gesorgt werden. 

Ein weiterer wichtiger Baustein seien die Gesetzesänderungen zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts vor extremistischen Kräften im vergangenen Jahr gewesen. Doch das sei noch nicht genug, sagt Gallina, denn: „Wir brauchen schärfere Schwerter!“ Ein solches Schwert könnte eine Kürzung der Bezüge für konkrete Personen sein, die Mitglied in einer verfassungsfeindlichen Organisation sind. Dies könnte die Personen auf individueller Ebene empfindlich treffen. Ein wichtiger Baustein institutioneller Absicherung sei darüber hinaus die Einrichtung von Richterwahlausschüssen, wie in Hamburg, auch in anderen Bundesländern.

Weniger Konflikte durch evidenzbasierte Politik

Grünberger erinnerte daran, dass es „in der Zeit der guten alten Bundesrepublik ein sehr enges harmonisches Verhältnis zwischen Recht und Politik [gab].“ Diese Harmonie verändere sich derzeit sehr stark. Grünberger: „Das macht mir als Rechtswissenschaftler Sorgen.“ An drei aktuellen Beispielen zeigt er auf, wie das Recht erodiere. Ob die Justizsenatorin diese Sorge teile, dass diese „diese Bindungskraft und Überzeugungskraft und Orientierungskraft des Rechts so nachlässt“?

Gallina zeigte sich überzeugt, dass dies mit einer Überforderung der Politiker:innen zu tun hätte. Die Parteien wollten gern die sozialen Probleme lösen, doch sie seien nicht kreativ genug, um Lösungen zu finden. Manche Politiker:innen würden dann merken, wie ihnen das Recht eine Grenze setze. Jedoch seien sie dann nicht in der Lage, nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Und deshalb forderten manche von ihnen, das Recht selbst müsse sich ändern. 

Ihr Vorschlag: evidenzbasierte Politik anwenden, um Konflikte zu verringern. Das bedeute, bestimmte Dinge auszuhalten – etwa lange Antworten auf komplexe Fragen. In der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Medien sei dies jedoch auch eine Herausforderung. Gallina: „Ich glaube, dass man bestimmte Dinge aushalten muss, dass man zu Positionen stehen muss, dass man aushalten muss, dass das Recht einem Grenzen setzt, dass man das erläutern und erklären muss und dass es vielleicht nicht diese Woche verstanden wird und auch nicht nächste Woche verstanden wird, aber dass, wenn man stabil bleibt, sehr wohl irgendwann auch eine Einsicht darin geschehen kann.“

 

Das persönliche Gespräch bleibt wichtig

Grünberger nahm ebenfalls Bezug darauf, komplexe Themen zu erklären und sich dafür Zeit zu nehmen. Auch als Appell an das Publikum im Saal und die Zivilgesellschaft als Ganzes: „Wir dürfen der Zivilgesellschaft vielleicht auch die eine oder andere Komplexität zumuten. Aber diese Zumutungen, die fehlen. Stattdessen haben wir einen Diskurs, in dem wir versuchen, noch weiter runterzugehen und komplexe Situationen als vermeintlich einfach darzustellen, obwohl sie eigentlich immer komplexere Interessengegensätze gegenüberstellen, die man auch nur durch komplexe Verfahren auflösen kann.“ 

Gallina nahm dafür auch die Medien und Journalist:innen als Verbündete in die Pflicht, um gute Informationen zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig plädierte sie dafür, Debatten- und Begegnungsräume zu eröffnen, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Das persönliche Gespräch von Mensch zu Mensch ist für die Senatorin eine der Grundlagen ihrer Arbeit und sei wichtig, derartig wichtige Themen miteinander zu verhandeln.

Organisatorin Dr. Alexa Meyer-Hamme vom Zentrum für Studium generale und Persönlichkeitsentwicklung beendete die Veranstaltung und bedankte sich bei Prof. Dr. Michael Grünberger und Anna Gallina für die Diskussion. Die Reihe „Bucerius Campus-Dialoge“ bringt regelmäßig Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu Gast an die Bucerius Law School.

Text

Désirée Balthasar

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